München / Bayerische Staatsoper (Juli 2024) Debussys „Pelléas et Mélisande“ als glänzend besetztes Kammerspiel
„Ich fühle mich krank hier“, gesteht Mélisande zögernd ein. Man kann es ihr in der Münchner Neuproduktion von Claude Debussys einziger Oper in jeder Sekunde nachempfinden. Von den ersten Takten an zieht sich im Prinzregententheater die Dunkelheit zusammen, musikalisch, bühnenästhetisch, emotional. Regisseurin Jetske Mijnssen sperrt die Natur konsequent aus und verortet die Geschichte ausschließlich in den Innenräumen von Schloss Allemonde – kein Wald, kein Park, keine Felsengrotte wie im Original. Ben Baurs Ausstattung ist entsprechend reduziert: dunkler Parkettboden, eine Chaiselongue, zwei Kerzenleuchter, Bett, Tisch, Stühle, steif-konventionelle Kleidung – und nach hinten zu pechschwarzes Nichts, umrahmt von kaltem Neonlicht. Den verrätselten Symbolismus dieser hermetisch abgeriegelten Welt, der schon Maurice Maeterlincks Dramenvorlage berühmt machte, übersetzt Mijnssen konsequent in die großbürgerliche Gesellschaft der vorletzten Jahrhundertwende – 1902 wurde Debussys Oper in Paris uraufgeführt.
Der Mief eines stumm an sich selbst erstickenden Familienclans tritt in dieser Lesart ungeschönt und mit fein gearbeiteten Gesten hervor, ohne auf überzogen soapige Effekte zu setzen. Das würde auch gar nicht passen zu „Pelléas et Mélisande“, diesem leisen, traumverlorenen „Drame lyrique“. Inmitten der subtilen Märchenanklänge im Libretto steckt im Kern die Tragödie einer aus vier Generationen bestehenden Familie – und genau auf die kommt es Mijnssen auch an, mit all dem nur zwischen den Zeilen zu Lesenden, das am Esstisch unausgesprochen bleibt.
Alles andere als erstickender Mief wird in dieser zweiten Premiere der Münchner Opernfestspiele von einem überragenden Ensemble aufgeboten. An erster Stelle zu nennen ist Christian Gerhaher, auf den die ganze Produktion wie zugeschnitten zu sein scheint: Sein Golaud ist eine Charakterstudie sondergleichen, ein getriebener, überspannter, abgründiger Choleriker, der nicht weiß wohin mit seinen jähzornigen Ausbrüchen, die sich in intensivst aufbrodelnder und doch nie eindimensionaler Gesangskunst Bahn brechen. Sabine Devieilhe zeichnet Mélisande, die ihm an den eigenen Bruder entgleitende Frau, nicht nur mit kristalliner Anmut, sondern kratzt immer wieder auch an den brennenden Narben der geheimnisumwobenen Vergangenheit ihrer Partie. Pelléas, der Dritte im Bunde, kann sowohl mit einem Tenor als auch einem Bariton besetzt werden. Mit Ben Bliss hat sich die Bayerische Staatsoper für Ersteres entschieden, was dank dessen leichtfüßiger Jugendlichkeit und seinem schlanken, betörenden Timbre nicht zuletzt der Abgrenzung der beiden Brüder zugutekommt.
Der erhabene Bass von Franz-Josef Selig als greises Familienoberhaupt Arkel und die bei aller Etikette empathische Geneviève von Sophie Koch tun das ihre zu einem absolut runden Gesamteindruck. Unbedingt zu erwähnen ist auch Felix Hofbauer vom Tölzer Knabenchor, der Golauds Sohn aus erster Ehe – ein verschüchtertes, misshandeltes, stumm leidendes Kind – in seltener Knabensopran-Qualität und mit exzellentem Schauspiel darstellt.
Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters steht Hannu Lintu. Er verlässt sich nicht allein auf das träumerisch-wogende Schillern in Debussys Partitur, sondern steuert auch auf gezielte musikalische Eruptionen hin, was dem dramaturgischen Spannungsaufbau im Wechselspiel sehr guttut.
Das Element Wasser zieht sich von Beginn an wie ein roter Faden durch die Inszenierung, die „Quelle der Blinden“ mündet im letzten Akt in einem die ganze Bühne flutenden Wassersteg – die Brücke ins Jenseits? Dass Jetske Mijnssen nicht krampfhaft versucht, auf all die Fragezeichen von Maeterlinck und Debussy gekünstelt Antworten zu konstruieren, macht diesen Abend zu einem Höhepunkt des laufenden Festspielsommers.
Florian Maier
„Pelléas et Mélisande“ (1902) // Drame lyrique von Claude Debussy
Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper