Ein üppiges grünes Maisfeld – real auf der Bühne und als Video auf der Leinwand. Kinder spielen darin Verstecken. Aber die Idylle trübt. Sie erzählen sich, dass ihre Eltern sie verlassen wollen. Und auch die Musik aus dem Orchestergraben wird bedrohlicher. In Xavier Kollers oscarprämiertem Film „Reise der Hoffnung“ aus dem Jahr 1990 ist es eine zerknautschte Postkarte aus der Schweiz mit Alpenpanorama, die bei Familienvater Haydar die Sehnsucht weckt, seine Heimat Anatolien zu verlassen. Am Grand Théâtre de Genève ist in Christians Josts Oper „Voyage vers L’Espoir“ in der Inszenierung von Kornél Mundruczó (Ausstattung: Monika Pormale) das Maisfeld die Metapher für ein besseres Leben. Oder ist das Paradies schon da? So denkt Haydars Frau Meryem, die glücklich ist mit dem, was sie hat. Den Sandhügel, auf dem sie steht, möchte sie nicht verlassen. Sie gehen trotzdem. Und werden am Ende ihr Kind in den Schweizer Alpen verlieren.

Xavier Kollers tief berührenden, realistischen, unpathetischen Film über das tragische Ende einer illegalen Einwanderung in die Schweiz als Grundlage für eine Oper zu nehmen, ist ein schwieriges Unterfangen. Christian Jost, dessen französischsprachige Oper nach dem Libretto von Kata Wéber eigentlich bereits im Frühjahr 2020 uraufgeführt werden sollte, möchte die tragische Flüchtlingsgeschichte nicht zu konkret erzählen. Deshalb verzichtet er auf gesprochene Worte und klangmalerische Effekte, koppelt den Orchesterpart in weiten Teilen vom Bühnengeschehen ab und entwickelt damit in den drei ineinander übergehenden Akten einen Erzählstrom, der ein Eigenleben führt. Das kann durchaus suggestive Kraft gewinnen, wenn sich im ersten Akt die Solovioline aus den Orchestermassen schält und Emotionen weiterträgt. Jost arbeitet mit durchaus tonalen Klangschichtungen, Wiederholungen und starker Rhythmik, die im zweiten Akt, der die lange Wanderung beschreibt, vom groß besetzten Schlagzeug vorangetrieben wird. Mit Glissandi in Streichern und Bläsern wird der sichere Boden immer wieder verlassen, rutscht weg, gleitet ins Ungewisse. Dirigent Gabriel Feltz mischt mit dem Orchestre de la Suisse Romande gekonnt die Klangfarben, hält die Balance und sorgt dafür, dass die auch mal swingenden Rhythmen im Fluss bleiben. Josts Musik fehlt jedoch eine konkretere theatralische Kraft. Sie kreist um sich selbst, anstatt dem Drama zu dienen.

Das größere Problem des Abends liegt aber im Gesang. Jost hat für alle Figuren kantable Legatolinien komponiert, die zu schön klingen, um wahr zu sein. Kartal Karagedik als Haydar, Rihab Chaieb als Meryem, Ivan Thirion als Lkw-Fahrer Matteo, Denzil Delaere als Mafioso Haci Baba, Julieth Lozano als Ärztin – ob im versifften U-Bahnhof, in der Fahrerkabine oder in der Bar: Jede und jeder singt mit vollem Vibrato und sattem Ton. Keine Figur wird durch ihre Stimme charakterisiert. Und auch die extremen körperlichen und psychischen Belastungen dieser Flucht hinterlassen keine Spuren. Nur Ulysse Liechti als Mehmed Ali, den die Flucht das Leben kostet, hat mit seiner reinen, fragilen Knabenstimme einen besonderen Ton.

Das zweite Problem sind die vielen Videos, die entweder live gefilmt und direkt auf Leinwand übertragen oder von echten Flüchtlingsströmen eingeblendet werden. Das Meiste wird so doppelt und dreifach erzählt. Der Fokus, den diese Geschichte auf der Opernbühne bräuchte, ist dahin. Erst im dritten Akt in den schneebedeckten Alpen wird der Abend atmosphärisch dichter. Hier begleitet das Orchester mit Vibraphon, Streicherteppich und lyrischen Trompeten den Gesang. Nichts lenkt mehr ab vom eigentlichen, tragischen Geschehen. Auch die nüchterne Verhörszene am Ende gelingt stimmig. Noch einmal sieht man die wogenden Maisfelder auf zwei Bildschirmen. Dann versiegt der Klangstrom.

Georg Rudiger

„Voyage vers L’Espoir“ (2023) // Oper von Christian Jost