Das kleine Stadttheater Gießen gönnt sich große Oper. Der Orchestergraben ist für die Besetzung, die eine „Tosca“ erfordert, zu klein, und so werden die Musiker auf der Bühne postiert, wo sie die gesamte hintere Hälfte einnehmen. Der Graben ist abgedeckt und erweitert die Bühne zum Zuschauerraum hin. Die Nähe zum Publikum nutzt Regiedebütant Martin Andersson, um mit seinen darstellerisch überzeugenden Protagonisten ein dichtes Kammerspiel aufzuführen. Dazu braucht es nur wenige Requisiten: ein Gerüst für den Maler Cavaradossi, die Tür zu einer Kapelle, ein Weihwasserbecken und einige Blumen für die Kirche, einen Schreibtisch und ein Sofa für Scarpias Büro im Palazzo Farnese und eine nackte Pritsche für Cavaradossis Gefängniszelle. Die Handlung wird an die Gegenwart herangerückt und läuft flüssig, spannend und ohne Regiemätzchen ab. So könnte auch eine traditionelle „Tosca“ in historischen Kostümen funktionieren.

Darüber legt der Regisseur aber eine zweite Ebene: In Videoeinblendungen, welche auf fünf in halber Bühnenhöhe angeordnete lamellenartige Segel projiziert werden, sieht man die drei Protagonisten in Freizeitkleidung: Scarpia mit Tosca bei der Fahrt auf einer Vespa durch Rom an einem Sommerabend, alle drei beim vergnügten Wasserspiel am Strand, aber auch Scarpia, wie er eifersüchtig ein Tête-à-tête von Tosca mit Cavaradossi beobachtet. Vielleicht hat es diese Szenen tatsächlich gegeben, vielleicht sind darunter Sehnsuchtsbilder Scarpias. Diese Kontrastierung von Bühnengeschehen und Videosequenzen ist sehr reizvoll und verleiht dem Kolportage-Plot des Librettos Tiefe, ohne dabei aufdringlich psychologisierend zu wirken.

Das Philharmonische Orchester Gießen zeigt sich unter der Leitung von Andreas Schüller in guter Form. Die Musiker präsentieren Puccinis farbige Partitur detailreich und luzide. Dabei halten sie sich mit der Lautstärke so nobel zurück, dass das Kammerspiel im Vordergrund nicht übertönt wird. Die jungen Sänger werden zu keinem Zeitpunkt zum Forcieren gedrängt. Ensemblemitglied Grga Peroš präsentiert sich als Scarpia in stupender Form und zeichnet das differenzierte Porträt eines enttäuschten Liebenden, der zum zynischen Gewaltmenschen wird. In der Titelpartie überzeugt Margarita Vilsone mit ihrem hellen, klaren Sopran, mit dem sie indes gelegentlich ein wenig zu stark aufdreht. Michael Ha als Cavaradossi offenbart Spinto-Qualitäten und genießt es sichtlich, saftige Spitzentöne in den Zuschauerraum zu schleudern. Bei der Rücknahme der Lautstärke wirkt sein Timbre ein wenig blass. Insgesamt jedoch ist ein gut aufeinander abgestimmtes Trio in den Hauptpartien zu erleben, das an weit größeren Häusern mühelos bestehen könnte. Ausgezeichnet sind auch die Nebenrollen besetzt. So ist ein musikalisch runder und szenisch spannender Abend zu erleben, der dem Gießener Stadttheater zur Ehre gereicht.

Dr. Michael Demel

„Tosca“ (1900) // Melodramma von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Stadttheaters Gießen