Die in Paris praktizierte Vorpremiere für unter 28-Jährige ergibt tatsächlich ein Opernhaus voller junger Leute. Selbst bei der nicht besonders aufregenden jüngsten „Ariodante“-Inszenierung mit mustergültiger Disziplin, inklusive kundig dosiertem Szenenapplaus für die Sänger und enthusiastischem Jubel am Ende!

Das „nouveau spectacle“ auf dem Programmzettel sollte man diesmal nicht assoziativ frei übersetzen. Richtig neu (im Sinne von originell) und wie ein mitreißendes szenisches Ereignis, das man Spektakel nennen könnte, wirkt dieser „Ariodante“ nicht. Obwohl eine Robert-Carsen-Inszenierung lange eine sichere Bank war, wirkt sie diesmal vor allem routiniert. Nicht nur die Bühne (an der Luis F. Carvalho mitwirkte) kommt wie ein vorgefertigter, funktionaler Baukasten daher, sondern die ganze Inszenierung: ein Guckkasten-Saal in Grün, mit bis zu vier Riesentüren auf jeder Seite samt Jagdtrophäen oben drüber. Der wird je nachdem zum Schlafzimmer oder Büro verkleinert oder zum Thronsaal vergrößert. In Opern-Schottland geht es (kostüm-)kariert und (einfalls-)sparsam zu. Dazu eine gegenwartsnahe Meute aus Presse und Paparazzi. Was eher bemüht wirkt und mehr verdeckt als erhellt.

Im ersten Akt ist alles hell und in Butter. Ariodante ist dem König als Schwiegersohn und Erbe hochwillkommen. Wobei Emily D’Angelo in der Titelrolle nicht wirklich zum Kraftzentrum des Ensembles wird: im Habitus jungenhaft brav, immerhin mit wohlkalkulierter Steigerung an Durchschlags- und Ausdruckskraft für die Soli. Olga Kulchynska hingegen überzeugt mit einer geradlinig eleganten und dann auch die Talfahrt der Gefühle glaubhaft verkörpernden Ginevra. Christophe Dumaux fädelt als Bösewicht Polinesso mit intensiv gestaltendem Counter-Timbre die Intrige ein, die Ariodante einen Seitensprung Ginevras mit ihm vorgaukelt. Dalinda lässt sich (blind vor Liebe) zu dem dafür nötigen Kleidertausch verleiten. Tamara Banjesevic wertet mit temperamentvollem Spiel und souveränen vokalen Höhenflügen diese Rolle deutlich auf.

Im dritten Akt kommen dann das Geständnis Dalindas und der wiederauftauchende Ariodante gerade rechtzeitig, um Ginevra zu retten und ein Alles-auf-Anfang zu behaupten. Dass vor allem Ginevra dieses ganze Theater ohne Blessuren und Langzeitschäden übersteht, ist schwer zu glauben. Die meisten Regisseure glauben es Händel auch nicht. Carsen lässt sich erstaunlicherweise nicht wirklich auf die berechtigten Zweifel ein. Am Ende wechseln die glücklich Vereinten vom formell royalen Dresscode ins Freizeit-Zivil und verlassen das Stück. Zurück bleiben die Wachsfiguren-Doubles der „richtigen“ britischen Royals und ein Selfie-versessenes Touristenpublikum.

Die respektable Ensembleleistung wird von Harry Bicket und The Englisch Concert geschmeidig begleitet. Man würde aber gerne auch die Faszination erleben, für die der Jubel des jungen Publikums angemessen wäre.

Roberto Becker

„Ariodante“ (1735) // Dramma per musica von Georg Friedrich Händel