Die Bühne ist in eine graue Stadtkulisse verwandelt. Auf die Wände sind Häuser und Dächer gemalt, expressionistisch mit verzerrten Winkeln und überzogenen Linien. Im „Hamelner Totentanz in 11 Bildern“ herrscht eine Rattenplage. Der Kinderchor – alle in grauen Kleidern – tanzt einen Reigen und singt: Die Geschichte wurde „schon oft erzählt“, aber „die Wahrheit hat man verfehlt“. Denn tatsächlich gibt die Sage vom Rattenfänger der Forschung bis heute Rätsel auf: Man weiß nicht endgültig, warum 130 Kinder am 26. Juni 1284 die Stadt Hameln verlassen haben und wohin sie verschwanden.

Der 1941 geborene Komponist Wilfried Hiller hat aus dem Stoff packendes Musiktheater gemacht. Das Libretto stammt von Michael Ende. Die Oper wurde 1993 uraufgeführt und geriet dann etwas in Vergessenheit, bis sich jetzt das Theater Pforzheim dem Werk wieder annahm. Das Premierenpublikum ist begeistert.

Hillers Oper wartet mit tollen musikdramaturgischen Ideen auf. Die Hauptrolle des Spielmanns etwa singt nicht und spricht nicht. Sie spielt „nur“ Klarinette und Florian Schüle, Orchestermitglied der Badischen Philharmonie Pforzheim, meistert diesen Part fabelhaft. Mit seinem Auftritt kommt Buntes in die von Intendant Markus Hertel besorgte Inszenierung. Mal mit flinken Gute-Laune-Tönen, mal mit schwermütigen langen Melodien fügt sich die Klarinette passend in die Dialoge. Vom Bürgermeister – gesungen mit schwerem Bass von Lukas Schmid-Wedekind – nimmt der Spielmann den Auftrag an, die Ratten zu verjagen. Zuversichtlich trillert die Klarinette also dem Chor der reichen und armen Bürger entgegen. Die Ratten tragen in der Pforzheimer Inszenierung Kopfmasken und bekommen mehrere ruckartige, wuselige Tanzeinlagen. Vertrieben werden sie durch die Klarinette schließlich mit einem dreigestrichen g, einem extrem hohen Ton, lange gehalten und – nicht wirklich schön. Hier aber soll die Partitur an hohe Ultraschalltöne erinnern, mit denen Ratten kommunizieren. Spannende Klangfarben und eine reiche Orchestrierung sind das große Plus dieser Produktion. Zusätzlich zu den Streichern und Bläsern im Graben sind sichtbar im hinteren Bühnenbereich auf zwei Etagen mannigfaltiges Schlagwerk, Pauken, Harfe und Klavier postiert. Ein Klangapparat, den Dirigent Robin Davis zuverlässig leitet.

Dass die Bürger ihren Rattenfänger um den Lohn prellen und er dann die Kinder entführt, ist in die Handlung rund um die Bürgermeistertochter Magdalena eingebettet. Jina Choi singt diese Rolle mit hellem – mal forderndem, mal ausgleichendem – Mezzosopran: Die Eltern mögen Wahrheit walten lassen. Die Reichen in Hameln nämlich frönen insgeheim einem Rattenkönig, der ihnen Geld gibt und den Armen dafür den Tod bringt. Gesanglich noch größere Gefühlspaletten mit extremen Sprüngen in höchste Töne liefert Dorothee Böhnisch als Mutter, die den Spielmann erotisch verführen will, seiner Musik dann aber selbst erliegt und aus Verwirrung die eigene Tochter tötet … Also, richtig Oper eben!

Dr. Sven Scherz-Schade

„Der Rattenfänger“ (1993) // Ein Hamelner Totentanz von Wilfried Hiller

Infos und Termine auf der Website des Theaters Pforzheim