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Rezensionen 2023/05

Wiederentdeckung einer Operettenkomponistin

Prag / Národní divadlo (August 2023)
Rachel Danzigers „Dorfkomtesse“ bei der Terezín Summer School

Prag / Národní divadlo (August 2023)
Rachel Danzigers „Dorfkomtesse“ bei der Terezín Summer School

Ein Dorf in Tirol. Alle sind aus dem Häuschen: Kronprinz Karl Emanuel kommt! Er ist auf Brautschau und Wirtstochter Mariandl ebenso aufgeregt wie Prinzessin Flori. Die nämlich will den Prinzen auf die Probe stellen und verkleidet sich als „Dorfkomtesse“. Jungförster Hans, der mit beiden flirtet, ist hin- und hergerissen: zwischen beiden Frauen, zwischen Untertanenpflicht und Eifersucht. Denn auch der Prinz und sein Kammerdiener interessieren sich für Mariandl. Die Liebeswirren nehmen ihren Lauf. Und am Ende? Finden sich die richtigen Paare: Hans und Mariandl, Prinz und Prinzessin!

Soweit die Handlung der „Dorfkomtesse“ von Rachel Danziger. Dass diese Operette jetzt erstmals seit 1910 wieder erklingt, hat mit „Musica non grata“ zu tun, einem Projekt der Deutschen Botschaft in Prag und der Prager Staatsoper, das sich der Wiederentdeckung vergessener jüdischer Musik widmet und alljährlich die Terezín Summer School veranstaltet. Hier wird mit internationalen Musikstudenten nicht nur innerhalb weniger Tage ein Konzertprogramm erarbeitet, sondern auch Erinnerungskultur gelebt. So gibt es Stadtführungen durch Theresienstadt, das, einst als Festung konzipiert, von den Nazis als Vorzeige-Konzentrationslager missbraucht wurde. Keiner kennt diesen noch immer gespenstischen Ort besser als Tomáš Kraus, Direktor der Theresienstädter Initiative und Sohn eines Überlebenden. Er ist einer der Initiatoren von „Musica non grata“, war doch die reiche deutsch-jüdische Kultur Prags im Kommunismus tabuisiert.

In diesem Kontext steht auch die Operette „Die Dorfkomtesse“. Sie wurde 1909 in Stockholm uraufgeführt, ein Jahr später in Berlin nachgespielt – und war der New York Times immerhin eine Meldung wert, nicht zuletzt, weil sie von einer Frau komponiert wurde. Auch heute noch ist das bemerkenswert, zumal über die Komponistin bislang nur ein Eintrag im berüchtigten „Lexikon der Juden in der Musik“ existiert. Im Vorfeld der Summer School hat deren Leiter Kai Hinrich Müller von der Kölner Musikhochschule einiges Neues über die 1870 in Amsterdam geborene Rachel van Embden herausfinden können. Nach ihrem Musikstudium in Holland und ihrer Heirat zog sie nach Berlin und hieß seitdem Danziger. Unter diesem Namen hat sie erst Lieder, dann Operetten geschrieben und für den Film komponiert. Bis vor Kurzem, bevor „Musica non grata“ zu recherchieren anfing, hatte man geglaubt, sie sei nach Theresienstadt deportiert worden, wie zwei ihrer Töchter. Inzwischen weiß man, dass Rachel Danziger, zusammen mit ihrer jüngsten Tochter, die Flucht nach England gelungen ist, wo sie allem Anschein nach 1946 starb.

Ihre Musik zur „Dorfkomtesse“ ist besonders in den Buffo-Nummern frech und spritzig, folgt ansonsten – wie das Libretto – ganz den Konventionen des Genres. Die sind den Gesangstudentinnen und -studenten heute allerdings nicht mehr vertraut, vor allem was den Umgang mit dem Text betrifft. Das lässt sich in drei Probentagen nicht nachholen – besonders bei Nichtmuttersprachlern wie hier – und sollte eigentlich an den Hochschulen stattfinden. Die etwa 40-minütige konzertante Klavierfassung kann deshalb nur eine Ahnung geben, wie das Stück im Original klingen mag. Immerhin blitzt Danzigers Humor hin und wieder auf, besonders in der besten Nummer, dem Jägerduett, in dem es um das Schießen geht. Und das in einem sehr eindeutig zweideutigen Sinn, auf den sich die junge russische Sopranistin Ekaterina Krovateva auch ohne Deutschkenntnisse bestens versteht.

Bleibt zu hoffen, das Werk einmal ganz und auf der Bühne zu erleben.

Stefan Frey

„Die Dorfkomtesse“ (1909) // Operette von Rachel Danziger van Embden in einer gekürzten Bearbeitung für Klavier von Kai Hinrich Müller

La commedia è finita!

Konstanz / RathausOper Konstanz (August 2023)
40-jähriges Jubiläum mit Leoncavallos „Pagliacci“

Konstanz / RathausOper Konstanz (August 2023)
40-jähriges Jubiläum mit Leoncavallos „Pagliacci“

Anlassgerecht kredenzt der Wettergott einen lauen Sommer-Premierenabend. So entfaltet sich im Innenhof vor der eindrucksvollen Renaissance-Kulisse des Rathauses klangvoll und übertitelfrei des Dichter-Komponisten kühne, aus dem wirklichen Leben geschöpfte, so „schaurige Wahrheit“ – wie es der Prolog verkündet. Ein Spiel, in dem Scherz und Schmerz, Theater- und Privatbeziehungen so nahtlos verzahnt und raffiniert gespiegelt sind, in dem die leidvolle Eifersucht des Komödianten Canio alias „Pagliacci“ und die Rachsucht des abgewiesenen Tonio zwei sich liebenden Menschen das Leben kosten.

Wie aber wird sich wohl Ruggero Leoncavallos spätromantisch und opulent orchestrierte „Verismo“-Oper ohne ihren bewährten Doppel-Partner („Cavalleria rusticana“) schlagen? Spiel, Satz und Sieg auch im Einzel? Und wie überzeugend wird – um in der (Tennis)-Bildsprache zu bleiben – ein Großbühnen-Champion spielerisch auf dem Kleinfeld, also in der kammermusikalischen Reduktion vorankommen?

Im Jubiläumsjahr hat sich das künstlerische Leitungsteam der RathausOper Konstanz für die bereits im Jahr 1994 entstandene Bearbeitung durch den Schweizer Komponisten Martin Derungs entschieden. Wie traurig, dass die Nachricht von dessen Tode in Folge langer Krankheit das „Pagliacci“-Team mitten in der Produktionsvorbereitung erreichte. So kann man die bereits dritte Konstanzer Inszenierung der 1892 in Mailand uraufgeführten Oper sicher auch als Hommage an den Komponisten würdigen, der u.a. bei Günter Bialas in München studierte und mit seinem Gesamtwerk Anerkennung als einer der führenden Schweizer Komponisten seine Generation erhielt.

Unter dem präzisen Dirigat von Eckart Manke fällt es den 15 Musikerinnen und Musikern hörbar leicht, die atmosphärisch aufgeladene, farbig instrumentierte und gekonnt auch mal „schräg“ mit Leoncavallos Leitmotiven arbeitende Partitur, in der das unausweichliche Unheil subtil lauernd mitschwingt, lebendig, transparent und pointiert zu gestalten. Bewusst verzichtet die Bearbeitung auf den romantischen Gesamtklang zugunsten der Fähigkeit, „den Notentext beinahe analytisch zu durchdringen“ (Derungs).

Mit weitaus weniger Originalität – wenngleich das Bügeleisen, das Nedda zur Abwehr einsetzt oder das unbeugsame Gummihuhn im Komödien-Kochtopf des zweiten Akts für Lacher im Publikum sorgen –, konventionell und meist im „Frontalmodus“ der Agierenden setzt Regisseur Andreas Merz Raykov das szenische Geschehen auf der von Mariia Krutoholova (Bühnenbild) und Joachim Steiner (Kostüme) ausgestatteten Bühne um. Im zeitlichen Irgendwo verortet, vertraut er – sicher nicht ganz zu Unrecht – stark auf die emotionale, die Figuren charakterisierende und das Geschehen tragende Kraft des Librettos und die vielen intensiven ariosen Momente im intriganten Spiel des verschmähten, seelisch so verletzten Tonio.

Dem verleiht Nicola Ziccardi dominante Züge und die dafür nötige Bariton-Wendigkeit samt Fülle. Leider (angesagt) indisponiert müht sich Antonio Signorello nach besten Kräften, seine Partie des Canio doch wirksam zu gestalten. Der noch jungen, vokal wie darstellerisch präsenten Anastasia Churakova nimmt man den belastenden Gewissenskonflikt zwischen der Loyalität gegenüber Ehemann Canio und ihrem Sehnen nach einem selbstbestimmten Leben und der Liebe zu ihrem Silvio (souverän: Hongyu Chen) gerne ab, so gekonnt, wie sie ihre Nedda verkörpert. Zurecht mit Szenenbeifall bedacht wird auch Tenor Luca Festner (Beppe), dessen glutvolles „Harlekin“-Ständchen die Herzen betört.

Somit lautet die Antwort auf die obigen Match-Fragen: Es bleibt beim Unentschieden und letztlich Geschmackssache. Das „Bajazzo“-Original würde sowohl den Raum und das im Rahmen der engagierten und erfolgreichen RathausOper Mögliche sprengen. Und so wird die Kammerfassung vom Publikum verdient mit langem Premierenbeifall bedacht.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Pagliacci“ („Der Bajazzo“) (1892) // Dramma von Ruggero Leoncavallo in der kammermusikalischen Bearbeitung von Martin Derungs

Mord hinter den Kulissen

Angermünde / UckerOper (August 2023)
„Judith“ vereint Mozart und Hebbel

Angermünde / UckerOper (August 2023)
„Judith“ vereint Mozart und Hebbel

Judith und Holofernes, die biblische Geschichte um die jüdische Witwe und den grausamen babylonischen Feldherrn, war in der Kunst immer wieder Thema. Der 15-jährige Mozart, der gerade mit dem Vater durch Italien reiste, stellt in „La Betulia liberata“ den religiösen Konflikt in den Vordergrund: Die belagerten Israeliten, die sich von Gott verlassen fühlen, werden von der tiefgläubigen Judith gerügt.

Mozarts Oratorium nach einem Drama von Metastasio lädt durchaus zur szenischen Umsetzung ein. So auch die UckerOper, die für ihre zweite Produktion „Judith“ die mittelalterliche St. Marienkirche des uckermärkischen Städtchens Angermünde bespielt. Regie in dieser deutschsprachigen Produktion führt Holger Müller-Brandes, der als Bühne eine Art Laufsteg in den Altarraum setzt. Links und rechts daneben nimmt das Publikum Platz. Das Preußische Kammerorchester Prenzlau spielt in der Empore des Seitenschiffs, die Sänger verfolgen das Dirigat von Jürgen Bruns durch einen gotischen Spitzbogen. Die akustischen Bedingungen sind halbwegs akzeptabel. 

Die Chorsänger vereinen sich zu einem ganz gegenwärtig anmutenden Flüchtlingscamp, sitzen bei Kerzenschein zwischen Kisten und Koffern. Müller-Brandes verzichtet auf drastische Bilder und setzt auf eine schlichte, ruhige Personenregie. Der Mord geschieht hinter den Kulissen. Nach der Tat hüllt sich Judith in einen Umhang und schmuggelt das abgeschlagene Haupt in einem Ballen mit ihrer Unterwäsche aus dem Lager.

Das Werk steht in der Tradition der italienischen Barockoper. Es ist durchaus eine Herausforderung, die lange Kette von Dacapo-Soloarien in Szene zu setzen. Zumal Mozart, im Sinne eines Oratoriums, das erotische Geschehen zwischen Judith und Holofernes ausspart. Um das Ganze aufzupeppen, wurden hier gesprochene Dialoge aus Friedrich Hebbels 1840 entstandenem Drama „Judith“ eingefügt. Hebbel leuchtet die Begegnung zwischen den beiden Hauptfiguren psychologisch aus. Er begründete die moderne, ambivalente, erotisch schillernde Sicht auf Judith als Femme fatale.

Vollblut-Schauspieler Hannes Lindenblatt als Holofernes erweist sich trotz der Kürze seines Auftritts als Kraftzentrum des Abends. Die Partie der Judith geht die Altistin Anna Vishnevska zu theatralisch an – mit weit in die Mittellage gezogener Bruststimme, forcierten Spitzentönen, schleppender Linienführung. Vor allem bei den Rezitativen trägt sie zu dick auf. Schön sind die Nebenrollen besetzt. Als Bethuliens Oberhaupt zeigt Kyle Fearon-Wilson brodelnde Gefühle und einen sonoren Tenor. Die Rolle der adligen Amital nimmt Irina Prodan kokett, sie überzeugt mit gestochen scharfen Koloraturen. Als Prinz Achior präsentiert Kento Uchiyama einen kraftvollen Sarastro-Bass.

Jürgen Bruns leitet seine „Preußen“ mit Elan und energischen Akzenten, sodass die Affekt-Kontraste gut zur Geltung kommen. Plastisch und farbenreich spielt die Bläserriege. Am Ende fährt der engagierte Laienchor, Judiths Tat preisend, zu voller Klangpracht auf.

Mit schmalem Budget, nichtkommerzieller Ausrichtung und viel ehrenamtlichem Engagement bringt die UckerOper anspruchsvolles Musiktheater in den ländlichen, dünn besiedelten Raum. Das Premierenpublikum ist begeistert.

Antje Rößler

„Judith“ // Oper nach Wolfgang Amadeus Mozarts Oratorium „La Betulia liberata“ (1771) und Friedrich Hebbels Tragödie „Judith“ (1840) in einer Bearbeitung von Birgitta Rydholm und Holger Müller-Brandes

Goldjungen

Innsbruck / Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (August 2023)
Ein Sängerfest mit Vivaldis „Olimpiade“

Innsbruck / Innsbrucker Festwochen der Alten Musik (August 2023)
Ein Sängerfest mit Vivaldis „Olimpiade“

Wer krönt das Ende seiner Laufbahn nicht am liebsten mit Gold? Intendant Alessandro De Marchi ruft dafür im Tiroler Landestheater passenderweise gleich eine waschechte „Olimpiade“ aus – die von Antonio Vivaldi, um genau zu sein.

Zu seinem Innsbrucker Abschied gönnt er sich und dem Publikum eine Starbesetzung, wie sie im Buche steht. Allen voran zwei Countertenöre und ein Sopranist singen um die Wette, als ob sie das Wort „Referenzcharakter“ am Premierenabend für sich gepachtet hätten. Man wähnt sich im barocken Opernhimmel: wenn Bejun Mehta das Innerste seiner Partie Licida in schwebende Töne gießt und die Zeit wie hypnotisch einfriert; wenn Raffaele Pe den emotional extrovertierten Megacle mit solcher Kunstfertigkeit zeichnet, dass selbst die Rezitative zu einem Ereignis werden; und wenn Bruno de Sá perlende Koloraturen in atemberaubender Höhe wie am Fließband produziert, dazu leichtfüßig wie Michael Jackson über die Bühne tanzt, alle Schmunzler und Lacher auf seiner Seite hat, der Saal tobt – und man bedauert, dass die extrem virtuosen Kadenzen trotzdem kein Da capo nach sich ziehen.

Die dunkleren Frauenstimmen haben es da nicht leicht mitzuhalten. Während der Mezzosopran von Benedetta Mazzucato (Argene) mit ehrlicher Wehmut durchaus einzunehmen weiß, zeigt Contraltistin Margherita Maria Sala zwei Gesichter: Insbesondere in den Rezitativen fesselt sie zwar mit plastischem Furor und Temperament, aber in ihren Arien fährt sie immer wieder auch mit angezogener Handbremse. Bei so vielen hohen Partien „geerdet“ wird die Oper von Bariton Christian Senn, der einen ungewöhnlich humanen König darstellt, und dem Bass von Luigi De Donato.

Klar, der ein oder andere Strich und/oder mehr Kontraste wären nicht verkehrt an diesem Abend. Das ist aber Meckern auf hohem Niveau angesichts De Marchis sehr organischem Dirigat, das den Solisten den Boden bereitet, das Innsbrucker Festwochenorchester für rasende Affektstürme vor sich hertreibt und dann wieder für liebliche Augenblicke des Innehaltens zügelt.

Der Sport ist letzten Endes nur Kulisse für einen barocken Arienreigen, der überraschend tiefenpsychologisch und kompositorisch geradlinig daherkommt. Die Verwechslungsgeschichte handelt von Königssohn Licida, der sich Hals über Kopf in Prinzessin Aristea verguckt, die just als „Siegertrophäe“ für den Gewinner der Olympischen Spiele ausgerufen wird. Der unsportliche Licida lässt seinen engen Freund Megacle unter falschem Namen für ihn antreten. Dumm nur, dass der und Aristea heimlich selbst längst ein Paar sind – und Licida eigentlich auch schon einer anderen versprochen ist …

Die Inszenierung von Stefano Vizioli leitet sich aus der Musik ab, arbeitet mit viel Situationskomik und gerät auch dann kurzweilig, wenn mal nicht so viel los ist auf der Bühne, die mit drahtig-muskulösen Statisten an Barren, Boxsack und Co. auf den Kampf um die Goldmedaille einstimmt. Verortet ist die Produktion zwar im Umfeld von Olympia 1936. Das dient aber als reiner Ankerpunkt für die Ausstattung (Bühnenbild: Emanuele Sinisi / Kostüme: Anna Maria Heinreich) – mögliche Bezüge zur Vivaldi-Renaissance, die im italienischen Faschismus u.a. mit der „Olimpiade“ Fahrt aufnahm, bleiben außen vor. Geschickter arrangiert Vizioli das zentrale Ideal der bedingungslosen „Männerfreundschaft“ von Licida und Megacle: Zwischen den originalen Libretto-Zeilen liegt da etwas damals noch Unaussprechliches, die stumme Trauer in Licidas Blick spricht für sich. Das wahre Traumpaar dieser Oper – es soll nicht sein.

Florian Maier

„L’olimpiade“ (1734) // Oper von Antonio Vivaldi in der kritischen Edition von Alessandro Borin und Antonia Moccia

Im siebten Untergeschoss

Salzburg / Salzburger Festspiele (Juli 2023)
Mozarts „Le nozze di Figaro“ geht runter wie Öl – mit bitterem Beigeschmack

Salzburg / Salzburger Festspiele (Juli 2023)
Mozarts „Le nozze di Figaro“ geht runter wie Öl – mit bitterem Beigeschmack

Dass das Festspielpublikum nicht so gut auf Regisseur Martin Kušej zu sprechen ist, war schon vor der Premiere klar. Trotzdem geht es hin, denn Gesprächsstoff liefert er allemal. Und Kušej tischt auf: Es wird ungemütlich im Haus für Mozart.

An diesem Abend werden die Mächtigen und Reichen verhöhnt, die Schwachen, die Zweifelnden – und die Frauen – liebkost. Mozart lässt uns glauben, dass alles nur ein Märchen ist – ein Märchen, das gut ausgeht und in dem Eros die treibende gute Kraft ist. Dass Eros auch zerstören kann, möchte die Musik uns ersparen. Und auch wenn man es dem bezaubernd samtigen Bariton von Andrè Schuen als Graf Almaviva gerne abnehmen würde, wenn er seine Gattin (Adriana González’ inniglicher Sopran zerreißt vor Schmerz das Herz) um Verzeihung anfleht: Kušej zieht einen Strich durch diese Rechnung. Denn der ganze letzte Akt, in dem sich alle lieb haben, alle vertragen, spielt in einer Utopie. In hügeliger Landschaft, in hohem Gras, fern der Zivilisation. Dort waltet die Liebe, so klingt es in Da Pontes genialem Libretto immer wieder an.

Ganz anders sieht es im Anwesen von Graf und Gräfin Almaviva aus. Die Regie verlagert den Handlungsort von Spanien nach … Stuttgart? Düsseldorf? München? London? Ganz egal – es sind Orte, die dem Publikum bekannt sein dürften. Kušej nimmt ihnen jeglichen Charme: eine Bar ohne Seele, zu große Räume, die zu leer, zu karg sind. Figaros Hochzeit (Krzysztof Bączyk mit vollem Bass) findet im siebten Untergeschoss eines Parkhauses statt. Hier können Liebe und Anstand nur verkümmern.

Der Verfall der Gesellschaft am Hof Almaviva wird besonders durch den skrupellosen Priester (im Libretto Musiklehrer) Basilio verdeutlicht, der provokant und an mancher Stelle etwas billig überspitzt als Oberschurke inszeniert und von Manuel Günther mit kräftigem Tenor versehen wird. Dem entgegengesetzt ist die Freundschaft zwischen der Gräfin und ihrer Zofe Susanna (Sopranistin Sabine Devieilhe singt wie ein Engel). Eine Freundschaft zweier Frauen, so zärtlich und voller Fürsorge, dass aus ihr eine Kraft entspringt, die das Schurkentum der Männer – wenigstens zeitweise – überstrahlt. Diese Kraft rührt aus dem, der der Welt enthoben ist: Cherubino (Lea Desandre mit glasklarem Mezzosopran), im ewigen Fluss der Jugend, verwirrt und verliebt, unschuldig wie ein junges Reh, doch in seiner Leidenschaft nicht zu zähmen. Eine hinreißende Figur – der Eros, den der Graf unermüdlich sucht und aus Verzweiflung verbannen, gar umbringen will. Er kann ihn nicht fassen. Denn Eros lässt sich nicht fassen, er erscheint im stetigen Wandel.

Sein Wesen kann nur in der Musik begriffen werden, in Mozarts Musik. Für deren klangliche Umsetzung sind die Wiener Philharmoniker, sehr präsent und ungewohnt spritzig, unter dem jungen Stardirigenten Raphaël Pichon maßgeblich verantwortlich. Diese Musik, so leicht und spielerisch, trägt durch einen düsteren Abend, sie leuchtet heller als alles Gold und Geld der Welt. Doch Kušejs zynische Handschrift hallt nach: Cherubino als Utopie.

Pia von Wersebe

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Commedia per musica von Wolfgang Amadeus Mozart

Infos und Termine auf der Website der Salzburger Festspiele

Hamelner Totentanz

Pforzheim / Theater Pforzheim (Juli 2023)
Eine Klarinette spielt die Hauptrolle in Wilfried Hillers „Rattenfänger“

Pforzheim / Theater Pforzheim (Juli 2023)
Eine Klarinette spielt die Hauptrolle in Wilfried Hillers „Rattenfänger“

Die Bühne ist in eine graue Stadtkulisse verwandelt. Auf die Wände sind Häuser und Dächer gemalt, expressionistisch mit verzerrten Winkeln und überzogenen Linien. Im „Hamelner Totentanz in 11 Bildern“ herrscht eine Rattenplage. Der Kinderchor – alle in grauen Kleidern – tanzt einen Reigen und singt: Die Geschichte wurde „schon oft erzählt“, aber „die Wahrheit hat man verfehlt“. Denn tatsächlich gibt die Sage vom Rattenfänger der Forschung bis heute Rätsel auf: Man weiß nicht endgültig, warum 130 Kinder am 26. Juni 1284 die Stadt Hameln verlassen haben und wohin sie verschwanden.

Der 1941 geborene Komponist Wilfried Hiller hat aus dem Stoff packendes Musiktheater gemacht. Das Libretto stammt von Michael Ende. Die Oper wurde 1993 uraufgeführt und geriet dann etwas in Vergessenheit, bis sich jetzt das Theater Pforzheim dem Werk wieder annahm. Das Premierenpublikum ist begeistert.

Hillers Oper wartet mit tollen musikdramaturgischen Ideen auf. Die Hauptrolle des Spielmanns etwa singt nicht und spricht nicht. Sie spielt „nur“ Klarinette und Florian Schüle, Orchestermitglied der Badischen Philharmonie Pforzheim, meistert diesen Part fabelhaft. Mit seinem Auftritt kommt Buntes in die von Intendant Markus Hertel besorgte Inszenierung. Mal mit flinken Gute-Laune-Tönen, mal mit schwermütigen langen Melodien fügt sich die Klarinette passend in die Dialoge. Vom Bürgermeister – gesungen mit schwerem Bass von Lukas Schmid-Wedekind – nimmt der Spielmann den Auftrag an, die Ratten zu verjagen. Zuversichtlich trillert die Klarinette also dem Chor der reichen und armen Bürger entgegen. Die Ratten tragen in der Pforzheimer Inszenierung Kopfmasken und bekommen mehrere ruckartige, wuselige Tanzeinlagen. Vertrieben werden sie durch die Klarinette schließlich mit einem dreigestrichen g, einem extrem hohen Ton, lange gehalten und – nicht wirklich schön. Hier aber soll die Partitur an hohe Ultraschalltöne erinnern, mit denen Ratten kommunizieren. Spannende Klangfarben und eine reiche Orchestrierung sind das große Plus dieser Produktion. Zusätzlich zu den Streichern und Bläsern im Graben sind sichtbar im hinteren Bühnenbereich auf zwei Etagen mannigfaltiges Schlagwerk, Pauken, Harfe und Klavier postiert. Ein Klangapparat, den Dirigent Robin Davis zuverlässig leitet.

Dass die Bürger ihren Rattenfänger um den Lohn prellen und er dann die Kinder entführt, ist in die Handlung rund um die Bürgermeistertochter Magdalena eingebettet. Jina Choi singt diese Rolle mit hellem – mal forderndem, mal ausgleichendem – Mezzosopran: Die Eltern mögen Wahrheit walten lassen. Die Reichen in Hameln nämlich frönen insgeheim einem Rattenkönig, der ihnen Geld gibt und den Armen dafür den Tod bringt. Gesanglich noch größere Gefühlspaletten mit extremen Sprüngen in höchste Töne liefert Dorothee Böhnisch als Mutter, die den Spielmann erotisch verführen will, seiner Musik dann aber selbst erliegt und aus Verwirrung die eigene Tochter tötet … Also, richtig Oper eben!

Dr. Sven Scherz-Schade

„Der Rattenfänger“ (1993) // Ein Hamelner Totentanz von Wilfried Hiller

Infos und Termine auf der Website des Theaters Pforzheim

Hollywood im Burgenland

St. Margarethen / Oper im Steinbruch (Juli 2023)
Eine cineastische „Carmen“ versinkt im Regen

St. Margarethen / Oper im Steinbruch (Juli 2023)
Eine cineastische „Carmen“ versinkt im Regen

Sie überlebt. Und 5.000 Menschen versinken klatschnass zwischen Regenmassen und Sturmböen – High Heels im Schlamm, Regencape statt Abendgarderobe. Der launische burgenländische Wettergott meint es nicht gut mit Georges Bizets Oper im stillgelegten Römersteinbruch St. Margarethen, die Premiere muss in der Pause abgebrochen werden. Für Teil 2 bleibt nur die vom ORF mitgeschnittene Generalprobe vor dem Fernseher – kein Vergleich zum Cinemascope-Format der großen Freilichtbühne. Gut, dass die ersten beiden Akte also noch live vermitteln können, was sich Regisseur Arnaud Bernard mit seinem Team ausgedacht hat: eine Verneigung vor dem Phänomen „‚Carmen‘, die meistverfilmte Oper der Welt“.

Die Rahmenhandlung bildet ein Hollywood-Filmstudio der 1950er Jahre, gedreht wird hier ein im Spanischen Bürgerkrieg der 1930er verorteter „Carmen“-Streifen mit der Titelrolle im politischen Widerstand gegen das Franco-Regime. Alessandro Camera hat dafür ein Bühnenbild von gigantischen Ausmaßen vor die natürliche Felsenlandschaft wuchten lassen: sechs rostrote Stahl-Drehbühnen von bis zu elf Metern Höhe und mit einem Gesamtgewicht von mehr als 70 Tonnen, die sich je nach Bedarf in die klassischen Szenenbilder verwandeln.

Davor wuselt es von Kameraleuten, Statisten und Stuntdoubles, durch ein Megafon wird immer wieder „Position!“, „Action!“, „Cut!“ gerufen. Überraschenderweise stört das den musikalischen Fluss nicht wirklich, vielmehr wird die Opéra-comique-Nummerndramaturgie betont – bei einem Werk mit derartiger Hitdichte ein durchaus gangbarer Weg. Aber, weit wichtiger: Die Konventionen in Bizets Evergreen werden als solche bewusst herausgestellt. Exotismus-Klischees, sexistische Stereotype und andere nach heutigen Maßstäben aus der Zeit gefallene Bilder? In der goldenen Ära des Films noch gang und gäbe. Oft weiß man gar nicht, wohin man schauen soll, wenn sich auf der extrem breiten Bühne zwei bis drei Handlungen mit innerem Bezug parallel abspielen – eine detailreich durchdachte, lustvolle Überforderung für das Auge mit ins Zeitkonzept passenden Kostümen (Carla Ricotti) und einer dynamischen Stuntchoreografie (Ran Arthur Braun).

Aber auch für das Ohr wird einiges geboten, speziell auf Solistenseite. Brian Michael Moore gibt einen jugendlichen Don José mit empfindsamem Schmelz, Vanessa Vasquez eine Micaëla voller samtener, inniger Hingabe und Vittorio Prato einen klangsatten Escamillo. In zweiter Reihe überzeugen der kernige Zuniga von Mikołaj Bońkowski und die soliden stimmlichen Leistungen von Aleksandra Szmyd (Frasquita) und Sofia Vinnik (Mercédès), während Marco Di Sapia und Angelo Pollek als Schmugglerduo Dancaïro und Remendado etwas konturlos bleiben (ebenso wie der seltsam blutleer klingende Philharmonia Chor Wien unter Leitung von Walter Zeh). Übertrumpft werden sie alle ohnehin von Joyce El-Khoury. Die libanesisch-kanadische Sopranistin stellt mit schicksalstrunkener Tiefe, enormer Ausstrahlung und hintergründiger Erotik nachdrücklich unter Beweis, warum die Carmen auch gerne Vertreterinnen ihres Stimmfachs anvertraut wird. Die Habanera bestreitet sie allerdings noch im Aufwärmmodus – was aber auch Valerio Galli anzulasten sein könnte, der das Piedra Festivalorchester mehrfach geradezu durch die Partitur hetzt. Ein Zügeln der Tempi speziell im ersten Teil würde der orchestralen Untermalung mehr als guttun, ansonsten vernimmt man aber ein sehr energetisches und differenziertes Klangbild.

Der Verrat von Carmens Widerstandsgruppe an das Franco-Regime, der folgende Massenmord vor der Stierkampfarena, der Tod Carmens durch Don Josés Hand – all das erlebt man zwar nur zuhause am kleinen Bildschirm, wo die großformatigen Simultanszenen einiges an Wirkung verlieren (und weshalb sich eine wirkliche Kritik hierzu auch verbietet). Eines aber kann der burgenländische Wettergott nicht wegspülen: den Eindruck einer Freilichtproduktion im besten Sinne.

Florian Maier

„Carmen“ (1875) // Oper von Georges Bizet in der Fassung mit nachkomponierten Rezitativen von Ernest Guiraud

Infos und Termine auf der Website der Oper im Steinbruch

Die Quadratur des Kreises

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2023)
Verdis „Don Carlo“ in der Rittersaal-Ruine

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2023)
Verdis „Don Carlo“ in der Rittersaal-Ruine

Als Verdi seinen „Don Carlos“ für Paris konzipierte, tat er dies durchaus im Bewusstsein, dass Giacomo Meyerbeer gestorben war und folglich eine Leerstelle in Sachen Grand opéra gefüllt werden könne. Man sollte, muss das mitdenken, wenn die sommerlichen Opernfestspele Heidenheim im Rittersaal von Schloss/Burg Hellenstein diese Vertonung des Schiller-Stoffes aufs Programm setzen. Zwar spielen und singen dort die Stuttgarter Philharmoniker sowie der Tschechische Philharmonische Chor Brünn die spätere italienische Fassung dieser so privaten wie politischen Tragödie (also kein Fontainebleau-Akt und kein großer Balletteinschub), doch damit wird der zu erhebende künstlerische Anspruch grundsätzlich ja nicht wirklich geringer.

Und so setzt durchaus Staunen darüber ein, dass in einer Opernhaus-losen 50.000-Seelen-Kreisstadt große Oper in einer vokalen und orchestralen Güte geboten wird, die allemal derjenigen kleinerer Staatstheater vergleichbar ist – und so manchem Stadttheater gar überlegen. Man kann sogar noch eins draufsetzen: Indem Marcus Bosch, der künstlerische Leiter und Dirigent, von Orchester und Chor hohe Transparenz und Zurückhaltung bei musikalischen Eruptionen verlangt, bleibt alles, ohne jegliche elektrische Verstärkung (!), differenziert vernehmbar – und das Vokale stets im Vordergrund. Da muss sich keiner regelmäßig verausgaben, um Effekt zu machen oder den Graben zu übertönen.

Mögen auch Pavel Kudinov als uniformierter König Philipp II. sowie Randall Jakobsh als eine Art Folterknecht-Großinquisitor noch eine Spur mehr an autoritärer Durchschlagskraft vertragen, so betören bei der Premiere Sung Kyu Park mit freiem hohem Tenor in der Titelrolle, Ivan Thirion als in jeder Hinsicht entschlossener Rodrigo, Leah Gordon als bemitleidenswerte Schmerzensfigur Elisabeth und – vor allen – Zlata Khershberg als Eboli mit einem so beweglichen wie substantiellen Mezzo.

Darüber hinaus gelingt Georg Schmiedleitners Inszenierung im Bühnenbild von Stefan Brandtmayr insofern eine Quadratur des Kreises, als sie unter einem zerbrochenen Peace-Zeichen geschickt vermittelt zwischen (einer etwas konventionellen) Werktreue und moderater Neudeutung des Werks. Zeitlupen-Gänsemärsche des Chors und dessen etwas steife symmetrische Aufstellung hernach gehören – einerseits – ebenso dazu, wie – andererseits – so mancher Verweis auf eine behauptete Überzeitlichkeit des Stoffes: etwa durch die „Abu-Ghraib“-Folterung politischer Häftlinge, das Nebeneinander historischer und zeitgenössischer Kostüme (spanische Halskrause versus silberbeschichtete Lederjacke) oder laufende Bildschirme eines Überwachungsstaats. Gewünscht ist erkennbar mehr denn lediglich große Oper als Augen- und Ohrenschmaus.

So beweist Heidenheims „Don Carlo“, dass diese Festspiele auch deutlich mehr sind als liebenswert und ehrgeizig. Und wenn sich dann noch die Nacht über die gen Himmel offene Rittersaal-Ruine senkt, dann kommt da noch die gebotene düstere „Don Carlo“-Stimmung hinzu. Und musikalischer Zauber.

Rüdiger Heinze

„Don Carlo“ (1867/84) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Opernfestspiele Heidenheim

Sprühende Klanglust

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2023)
Leo Falls „Madame Pompadour“ neu arrangiert

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2023)
Leo Falls „Madame Pompadour“ neu arrangiert

„Auch die Pause gehört zur Musik“, zitiert Intendant Thomas Enzinger Stefan Zweig. „Es sind die kurzen kraftvollen Momente des Innehaltens, die Kraft verleihen, und gerade in herausfordernden Zeiten wie diesen ist es umso bedeutender, Geist und Seele Atem holen zu lassen. So wie das Lehár Festival eine Pause für die Seele ist.“ Für solches Abschalten vom Alltäglichen erweist sich die Premiere von „Madame Pompadour“ zum 150. Geburtstag von Leo Fall als gutes Rezept. Franz Lehár hatte einst auf die Frage, ob er einen Konkurrenten habe, geantwortet: „Ja, das ist der Fall.“

Enzinger inszeniert einen heiteren Bühnenspaß voller Temperament, wirbelndem Tanzvergnügen, Amüsement und gewitzter Komik, gespickt mit parodierenden Elementen. Die Geschichte dreht sich um die historische Madame Pompadour, Mätresse des französischen Königs Ludwig XV. Es ist Fasching in Paris, wo die selbstbewusste Marquise de Pompadour dem Hofleben entflieht, indem sie sich unerkannt unters Volk mischt. Im „Musenstall“, einer gewöhnlichen Spelunke, trifft sie auf Graf René und dessen Freund, den Dichter Joseph Calicot, der ein Spottlied auf die Mätresse des Königs verfasst hat. Diesen beiden Schwerenötern verdrehen die Marquise und ihre Kammerzofe Belotte gewitzt den Kopf.

Fall schrieb die Partie der Pompadour für die damalige Diva Fritzi Massary: „Durch den Rokoko-Schleier erzählt die Geschichte von einer selbstbewußten Frau der Zwanziger Jahre.“ Erik Charell schuf später eine Umarbeitung zur Revue. Die Ischler Premiere bietet auf musikalischer Seite eine neu arrangierte Fassung als Revue-Operette von Matthias Grimminger, Henning Hagedorn und Dirigent Christoph Huber. Es wurden Saxophon, Banjo, Sousaphon und Jazz-Schlagzeug hinzugefügt und die Blechbläser mit zeitgenössischen Jazz-Dämpfern versehen. Das Ergebnis: sprühende Klanglust, von den Tänzern flott beweglich umgesetzt (Choreografie: Evamaria Mayer), dazu in passender Ästhetik das szenische Ambiente (Sabine Lindner) und die historisch stilisierten Kostüme (Sven Bindseil).

Geschickt verblendet der Regisseur komödiantischen Witz mit Parodie und Kabarett-Einschüben, lässt unterschwellig aktuelle Bezüge in die Dialoge einfließen und bringt die Mischfarben zu einer gelungenen Einheit. Als distinguierter Haushofmeister ist Enzinger selbst mit von der Partie. Die Marquise de Pompadour findet in Julia Koci eine ideale Verkörperung. Die Sopranistin agiert mit Eleganz und selbstbewusster Präsenz und singt mit wohllautender, gut geführter Stimme. Die bekannten Couplets „Heut’ könnt’ einer sein Glück bei mir machen“ oder „Ich bin dein Untertan“ macht sie zu gesanglichen Höhepunkten. Im Duett „Joseph, ach Joseph, was bist du so keusch?“ werden sie und Kaj-Louis Lucke (Dichter Calicot) gemeinsam in der Badewanne zu heftig beklatschten Publikumslieblingen. Maximilian Mayer ist mit ansprechendem Tenor der glühende Verehrer der Marquise, Loes Cools agiert und singt mit Witz als Kammerzofe Belotte. König Ludwig (Claudiu Sola) favorisiert eine kesse Sohle aus Stepptanz-Elementen, während Alfred Rauchs Polizeiminister Maurepas immer und überall „schläuer“ ist. Christoph Huber am Pult bringt das Franz Lehár-Orchester mit zündendem Elan zum Klingen.

Elisabeth Aumiller

„Madame Pompadour“ (1922/2023) // Operette von Leo Fall in einer jazzigen Revue-Fassung für großes Orchester von Matthias Grimminger, Henning Hagedorn und Christoph Huber

Im Abgrund versunken

Aix-en-Provence / Festival d’Aix-en-Provence (Juli 2023)
Bergs „Wozzeck“ mit Ausnahme-Interpret Christian Gerhaher

Aix-en-Provence / Festival d’Aix-en-Provence (Juli 2023)
Bergs „Wozzeck“ mit Ausnahme-Interpret Christian Gerhaher

Im Grand Théâtre de Provence gibt es den Abgrund, in den Wozzeck bei Georg Büchner und in Alban Bergs Oper blickt, diesmal sogar ganz wortwörtlich. Der von den Verhältnissen und von vielen Menschen bedrängte, gehetzte und geschundene Mann versinkt tatsächlich: im Bühnenambiente von Miriam Buether, ganz langsam und genau zu den von Simon Rattle und seinem London Symphony Orchestra beigesteuerten, betörend dunkel leuchtenden Orchesterklängen. In Simon McBurneys beklemmend konzentrierter Inszenierung, die eine detailgenaue Personenregie einschließt, streckt Wozzeck bei seinem Untergang noch in stummer Verzweiflung die Hände nach seinem Sohn aus. Der bleibt ganz stumm und allein zurück, mit der Projektion einer trostlos erdrückenden Plattenbaufassade im Rücken. Das vorher schon immer mit dem Vater mitlaufende kindliche Alter Ego des Hauptmanns bedrängt ihn zu den „Hopp, hopp!“-Tönen. Genauso, wie es zuvor dessen weiß uniformierter Vater, den Peter Hoare bis in die Groteske treibt, immer wieder getan hat. Die Hoffnungs- und Trostlosigkeit ist damit nicht nur auf den Punkt gebracht, sie geht auch wie selten zu Herzen.

Drei Wände begrenzen die leere Spielfläche und werden reichlich, aber wohldosiert für atmosphärische Nahaufnahmen und Videoprojektionen genutzt. Sie bilden das metaphorische Gefängnis, in dem sich nicht nur Wozzeck, gehetzt wie in einem Hamsterrad, abstrampelt. Maries Behausung (im Plattenbau) wird nur durch eine Tür angedeutet.

Dass dieser Wozzeck den Abgrund, in den er am Ende stürzt, als solchen bewusst wahrnimmt, gehört zu den Facetten, mit denen wohl nur ein Ausnahme-Interpret wie Christian Gerhaher diese Figur zeichnen kann. Dieser phänomenale Sängerdarsteller vermag es, mit seiner intelligenten Gesangskultur auch einem Wozzeck noch Reste von Würde und Selbstbewusstsein zu sichern und ihn mit einem „Trotz allem!“ auszustatten. Aber auch die vokal leuchtende Malin Byström (Marie), Thomas Blondelle (als machohafter Tambourmajor), Brindley Sherratt (der schrullige Doktor), Robert Lewis (als einziger Freund Andres) sowie Héloïse Mas (eine exquisite Margret) machen aus ihren Figurenporträts Musterbeispiele erstklassigen Gesangs zu intensivem Spiel. Der Estonian Philharmonic Chamber Choir und die „Actors“-Truppe sorgen für eine wohldosierte Opulenz der Massenszenen im Wirtshaus oder der Kaserne. Einhelliger, wohlverdienter Jubel für eine festspielwürdige Produktion.

Roberto Becker

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

kostenfreier Stream bis 12. Juli 2024 auf ARTE Concert