Im Grand Théâtre de Provence gibt es den Abgrund, in den Wozzeck bei Georg Büchner und in Alban Bergs Oper blickt, diesmal sogar ganz wortwörtlich. Der von den Verhältnissen und von vielen Menschen bedrängte, gehetzte und geschundene Mann versinkt tatsächlich: im Bühnenambiente von Miriam Buether, ganz langsam und genau zu den von Simon Rattle und seinem London Symphony Orchestra beigesteuerten, betörend dunkel leuchtenden Orchesterklängen. In Simon McBurneys beklemmend konzentrierter Inszenierung, die eine detailgenaue Personenregie einschließt, streckt Wozzeck bei seinem Untergang noch in stummer Verzweiflung die Hände nach seinem Sohn aus. Der bleibt ganz stumm und allein zurück, mit der Projektion einer trostlos erdrückenden Plattenbaufassade im Rücken. Das vorher schon immer mit dem Vater mitlaufende kindliche Alter Ego des Hauptmanns bedrängt ihn zu den „Hopp, hopp!“-Tönen. Genauso, wie es zuvor dessen weiß uniformierter Vater, den Peter Hoare bis in die Groteske treibt, immer wieder getan hat. Die Hoffnungs- und Trostlosigkeit ist damit nicht nur auf den Punkt gebracht, sie geht auch wie selten zu Herzen.

Drei Wände begrenzen die leere Spielfläche und werden reichlich, aber wohldosiert für atmosphärische Nahaufnahmen und Videoprojektionen genutzt. Sie bilden das metaphorische Gefängnis, in dem sich nicht nur Wozzeck, gehetzt wie in einem Hamsterrad, abstrampelt. Maries Behausung (im Plattenbau) wird nur durch eine Tür angedeutet.

Dass dieser Wozzeck den Abgrund, in den er am Ende stürzt, als solchen bewusst wahrnimmt, gehört zu den Facetten, mit denen wohl nur ein Ausnahme-Interpret wie Christian Gerhaher diese Figur zeichnen kann. Dieser phänomenale Sängerdarsteller vermag es, mit seiner intelligenten Gesangskultur auch einem Wozzeck noch Reste von Würde und Selbstbewusstsein zu sichern und ihn mit einem „Trotz allem!“ auszustatten. Aber auch die vokal leuchtende Malin Byström (Marie), Thomas Blondelle (als machohafter Tambourmajor), Brindley Sherratt (der schrullige Doktor), Robert Lewis (als einziger Freund Andres) sowie Héloïse Mas (eine exquisite Margret) machen aus ihren Figurenporträts Musterbeispiele erstklassigen Gesangs zu intensivem Spiel. Der Estonian Philharmonic Chamber Choir und die „Actors“-Truppe sorgen für eine wohldosierte Opulenz der Massenszenen im Wirtshaus oder der Kaserne. Einhelliger, wohlverdienter Jubel für eine festspielwürdige Produktion.

Roberto Becker

„Wozzeck“ (1925) // Oper von Alban Berg

kostenfreier Stream bis 12. Juli 2024 auf ARTE Concert