Deutschlands reiche Opernlandschaft ist stets eine Reise wert. Doch wer sie durchwandert, sollte sich nicht auf die Großstädte beschränken, sondern regelmäßige Abstecher in die sogenannte „Provinz“ machen. Denn an den kleinen Häusern herrscht trotz schmalen Budgets häufig ein leidenschaftlicheres und phantasievolleres Theaterleben als in mancher Metropole.

Beispielsweise Annaberg-Buchholz: Die Erzgebirgs-Stadt besitzt mit dem über 100 Jahre alten Eduard-von-Winterstein-Theater ein schmuckes Haus. Hier ist seit dieser Saison der Bariton Moritz Gogg Intendant und in puncto aufregender Spielplangestaltung tritt er in die Fußstapfen seines Vorgängers Ingolf Huhn. Der hatte mit Trouvaillen wie Goldmarks „Götz von Berlichingen“, Peter Gasts „Der Löwe von Venedig“ oder Carl Mangolds „Tannhäuser“ Raritätenfans von weither gelockt.

Diese dürften auch von Goggs Eröffnungspremiere angetan sein, für die er die Büchner-Vertonung „Leonce und Lena“ von Erich Zeisl auswählte, ein Stück weit abseits des gängigen Repertoires.

Sie ist gleichzeitig eine Wiedergutmachung an dem 1905 geborenen Komponisten, der sich in seiner Heimat Wien einen Namen gemacht hatte, 1938 aber wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren musste. In Los Angeles fand Zeisl ein neues Zuhause, doch künstlerisch konnte er nicht an frühere Erfolge anknüpfen. Wenigstens erlebte er hier 1952 die Uraufführung seiner zweiten, bereits 1937 komponierten Oper, der Büchner-Vertonung „Leonce und Lena“. Erst 2017 schaffte sie es über den Ozean: In Linz fand die europäische Premiere statt, die Produktion in Annaberg-Buchholz ist die erste in Deutschland. Wie der Intendant am Beginn der Vorstellung stolz verkündet, ist zu diesem Anlass auch Eric Randol Schoenberg, der Enkel von Zeisl (und Arnold Schönberg) angereist. Er kann zufrieden sein.

Darüber, wie elektrisierend Dirigent Jens Georg Bachmann mit der Erzgebirgischen Philharmonie Aue die tolle Musik seines Großvaters – eine Mischung von frechen Rhythmen à la Kurt Weill und süffigen Melodien à la Erich Wolfgang Korngold fernab der damaligen Avantgarde – über die Rampe bringt. Und darüber, wie kompetent das Ensemble den sängerischen Anforderungen gerecht wird und die ausgedehnten Zwischentexte spricht: der neu engagierte Tenor Richard Glöckner als feinstimmiger Prinz, Bettina Grothkopf als Lena mit großformatigem Sopran, Jason-Nandor Tomory als agiler Diener und László Varga als König mit Bassbuffo-Vorzügen.

Das Stück, von Zeisl als Opern-Lustspiel bezeichnet, inszeniert Jasmin Sarah Zamani als turbulente Komödie zwischen Sein und Schein. Prinz Leonce, der bei Büchner durch die Liebe zur Prinzessin Lena von seiner Melancholie geheilt wird, ist in der Sicht der Regisseurin ein junger Mann an der Schwelle zum Erwachsenen, der aus der Realität in seine eigene Traumwelt flieht. Die besteht in der Ausstattung von Martin Scherm aus geometrischen weißen Versatzstücken, die vor wechselnden bunten Hintergrundprospekten immer neue Spielflächen ergeben. Ein Happy End gibt es nicht. Auch Lena scheint eine Projektion zu sein, denn bis zum Schluss bleibt das Paar auf Distanz.

Von Annaberg-Buchholz geht es weiter nach Radebeul. Die unweit von Dresden gelegene Karl-May-Stadt ist Sitz der Landesbühnen Sachsen. Seit 2017 lenkt Operndirektor Sebastian Ritschel die Musiktheatersparte und auch er bricht gerne aus dem Repertoire-Alltag aus, etwa mit den Musicals „Das Licht auf der Piazza“ und Sondheims „Sunday in the Park with George“.

Genauso ambitioniert ist der Saisonauftakt mit Gottfried von Einems Kafka-Vertonung „Der Prozess“. Sie entstand 1953 im Auftrag der Salzburger Festspiele, es dirigierte Karl Böhm und auf der Bühne stand die Crème de la Crème der damaligen deutschsprachigen Sängerszene, vorneweg Max Lorenz und Lisa della Casa.

Solche Starnamen braucht Radebeul nicht für einen rundum geglückten Theaterabend. Sebastian Ritschel, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, lässt das bekannte Geschehen um Josef K., der von einer nebulösen Obrigkeit verfolgt wird, in einer surrealen Raumlandschaft spielen. Eine Drehbühne zeigt im Wechsel drei klaustrophobische Örtlichkeiten mit unerwartet sich öffnenden Luken, Fenstern und Türen. Ein gespenstisches Panoptikum aus dominanten Frauen, bedrohlichen Beamten und grotesken Gehilfen, verkörpert durch ein Männertrio, umkreist den Prokuristen.

Videos, die mal Zerrbilder, mal höhere Machtpersonen zeigen, verunsichern ihn zusätzlich. Selbst Gott spricht, von Wolken umhüllt, zu ihm. Das Leben des Josef K. ist aus den Fugen geraten, es spielt sich in einer vom Netz beherrschten Welt ab. Das spiegeln auch die Kostüme wider, die von spinnwebartigen Mustern, Algorithmen gleich, überzogen sind. Nur K. ist als einziger weiß gekleidet. Am Ende, wenn sich seine Fantasien verflüchtigt haben, sitzt er allein neben einer nackten Schaufensterpuppe, ein Ersatz für reale Weiblichkeit.

Pascal Herington als dauerpräsenter Josef K. beeindruckt mit kultiviertem lyrischem Tenor und darstellerischer Glaubwürdigkeit – eine Idealbesetzung. Stellvertretend für das durchweg großartig agierende Ensemble sei die Sopranistin Kirsten Labonte erwähnt. Obwohl kurzfristig eingesprungen, singt sie von der Seite souverän zwei der fünf Frauenrollen.

Unter der Leitung von Hans-Peter Preu breitet die Elbland Philharmonie Sachsen einen transparenten, rhythmisch pulsierenden Instrumentalteppich aus. Der musste zwar aufgrund der aktuellen Abstandsregeln verschlankt werden, doch bleibt die von Tobias Leppert arrangierte Fassung nahe am Originalklang und entwickelt durch ihren ostinaten Drive enorme Sogkraft.

Beide Städte haben übrigens schon die nächsten Raritäten angesetzt. Annaberg-Buchholz präsentiert aktuell die deutsche Erstaufführung von Ralph Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“, Radebeul die Wagner-Parodie „Die lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus.

Karin Coper

„Leonce und Lena“ (1937 entstanden, 1952 uraufgeführt) // Opern-Lustspiel von Erich Zeisl
Infos und Termine auf der Website des Eduard-von-Winterstein-Theaters

„Der Prozess“ (1953) // Oper von Gottfried von Einem in einer Bearbeitung für kleines Orchester von Tobias Leppert
Infos und Termine auf der Website der Landesbühnen Sachsen