Ohne Besetzungszettel würde man wohl kaum glauben, dass alle Figuren von Männern verkörpert werden. Vor allem deshalb nicht, weil der treffliche Sopranist Bruno de Sá verblüffend wie eine Frau singt und spielt. Auch aufgrund seiner zierlichen Erscheinung gibt der Brasilianer überzeugend die Königin Cleofide. Eine simple Travestie-Parade ist diese zweite szenische Produktion beim noch jungen Festival Bayreuth Baroque folglich nicht, auch wenn sie subtil einen Beitrag zur Genderdebatte leistet. Vielmehr spielt sie auf die Tradition im 18. Jahrhundert an, als die Geistlichkeit Frauen den Zugang zur Bühne verwehrte.

Als Countertenor mischt sich der Festivalchef Max Emanuel Cencic diesmal nicht unter sein Ensemble, aber seine Regiearbeiten werden zunehmend genialer. „Alessandro nell’Indie“, eine unbekannte Oper von Leonardo Vinci (1690-1730 und nicht zu verwechseln mit dem berühmten Maler), besticht jedenfalls als vergnüglicher Augenschmaus mit opulenter Ausstattung und augenzwinkernden ironischen Brechungen. Domenico Franchis Bühne strotzt nur so vor imposanten Dekors, spektakulären Tänzen (Choreografie: Sumon Rudra), Messerkämpfen, goldenen Elefanten, exotischem Flair und Bollywood-Bombast, und auch die glamourösen Roben (Kostüme: Giuseppe Palella) bilden einen herrlichen Blickfang in dem nicht minder prächtigen Markgräflichen Opernhaus. Mit Alexander dem Großen und seinem Feldzug nach Indien hat das alles wenig zu tun, weshalb es probat erscheint, dass Cencic die Handlung zur Zeit des britischen Königs George IV. ansiedelt. Letztlich geht es um Liebesaffären, Eifersüchteleien und Missverständnisse zwischen zwei herrschaftlichen Lagern, dem makedonischen unter Alexander und einem indischen unter König Poro und seiner geliebten Cleofide.

Musikalisch ist dieser „Alessandro“ gleichermaßen ein Fest, dies allein schon dank affektreicher Arien, Rezitative und Duette, die fünf Stunden wie im Fluge vergehen lassen und ihrem melodischen Einfallsreichtum dem wohl bedeutendsten Barockopernkomponisten Georg Friedrich Händel in nichts nachstehen. Nicht alle Sänger-Protagonisten präsentieren sich von Beginn an stimmlich so in Hochform wie der mit stehenden Ovationen gefeierte Bruno de Sá oder der Countertenor Nicholas Tamagna als Alessandros Feldherr Timagene, steigern sich aber von Akt zu Akt. In den Spitzen seiner virtuosen Koloraturen tönt der Countertenor von Franco Fagioli mitunter recht eng. Und Maayan Licht in der Titelrolle gewinnt erst ab dem zweiten Akt an stimmlicher Präsenz. Und doch haben auch diese beiden große Momente. In einer der schönsten Arien dialogisiert Fagioli sehr beredt mit der Solo-Violine. Martyna Pastuszka, die das Residenzorchester des Festivals mit ihrer Violine aus dem Graben souverän, stilsicher und hoch engagiert leitet, kommt für diese Nummer auf die Bühne, wo sie und der Sänger einander räumlich und musikalisch brillant umspielen.

Kirsten Liese

„Alessandro nell’Indie“ (1740) // Dramma per musica von Leonardo Vinci

Infos und Termine auf der Website des Bayreuth Baroque Opera Festivals