Penelopes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Sie kämpft mit den Tränen. Verzweifelt versucht sie, Worte zu formen. Helena Cánovas Parés und Maike Graf gehen in ihrem digitalen Musiktheater »Penelope. Eine Studie über das Warten« in neun Bildern dem Phänomen des Wartens nach. Helena Cánovas Parés, die 2021 mit dem Carmen Mateu Young Artist European Award ausgezeichnet wurde, hat ihre Komposition expressiv verdichtet. Bruchstücke von Melodien wechseln ab mit einzelnen verzerrten Klängen, die mitunter schrill hervortreten, mehrfach wiederholt werden und ersterben. Die Zeit steht still im Warten. Es gibt keinen musikalischen Fluss, der voranschreitet. Ebenso bruchstückhaft hat die Autorin und Künstlerin Maike Graf, die Musiktheater und experimentelle Formate schreibt, das Libretto entworfen. Es beschränkt sich auf einzelne Worte und Silben sowie kurze Sätze und Satzfragmente. In vergeblichen Versuchen, Vergehen und Dauer zu erfassen und zu messen, erweist sich in ihm ein auswegloses Ringen mit der Zeit.

Inspirieren ließ sich Maike Graf von Homers Epos »Odyssee«, in dem Penelope zwanzig Jahre lang treu auf die Heimkehr ihres Gatten Odysseus nach Ithaka wartet und all die Freier, die ihr Haus umlagern, abweist. »Zu warten heißt zu lieben«, lautet ein zentraler Satz des Librettos. Und »keusch« ist denn auch das erste Wort, das Natasha López als Penelope, schwer atmend, stockend und immer wieder neu ansetzend, formt. Sie lotet in ihrer Darstellung das gesamte Spektrum stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten aus. Vom gehauchten Flüstern bis zum schrillen Schreien und vom rhythmischen Sprechen bis zum Gesang. Nicht nur das Zeitempfinden ändert sich im Warten, auch der Blick auf die Wirklichkeit verschwimmt. Das Warten schafft seine eigene Welt. Penelope webt ihren Wartesaal. Vorfreude hat im ungewissen Warten keinen Raum.

Das 2012 gegründete Stuttgarter Neue Musik Ensemble TRIO vis-à-vis, dem neben López der Flötist Guillermo González und der Cellist Hugo Rannou angehören, bringt diese verfremdete Sicht in seiner Aufführung durch die Reduktion des Bildausschnitts und der Farben sowie der zerfließenden Konturen auf raffinierte Weise zum Ausdruck. Und das zeichnet diesen Urstream des digitalen Musiktheaters aus. Er ist nicht eine bloß abgefilmte Aufführung, sondern die Künstler arbeiten mit den Mitteln, die die digitale Welt bietet und schaffen ein eigenständiges Kunstwerk. Die Musiker erinnern mit der Aufführung zudem an die Flötistin Maria Kalesnikava. Sie gehörte ab 2017 dem Trio an. Als Bürgerrechtlerin und wichtige Vertreterin der demokratischen Opposition, die dem Gewaltregime von Aljaksandr Lukaschenka ein demokratisches und freies Belarus entgegensetzen, befindet sie sich seit 2020 im Gefängnis.

Ruth Renée Reif

»Penelope. Eine Studie über das Warten« (2022) // Digitales Musiktheater von Helena Cánovas Parés

Das digitale Werk ist im Internet verfügbar