Neapel / Teatro di San Carlo (April 2023) Wagners „Walküre“ im zersprungenen Bilderrahmen
Im nach einer kürzlichen Renovierung wie neu erstrahlenden, wunderschönen Teatro di San Carlo holt man eine ansehnliche „Walküre“ von Richard Wagner aus dem Archiv, und zwar die Inszenierung von Federico Tiezzi aus dem Jahr 2005. Er zählt mit seinen szenischen Arbeiten zu den führenden Exponenten der italienischen Neo-Avantgarde und unterstreicht das mit der Wahl von Giulio Paolini als einem auf geometrische und architektonische Formen setzenden Bühnenbildner. Giovanna Buzzi schuf die äußerst geschmackvollen Kostüme aus der Entstehungszeit des Stücks.
Es geht Tiezzi vor allem darum, mit den Bildern von Paolini große Harmonie zwischen Wagners Musik und der Szene herzustellen, wobei die Personenregie allerdings bisweilen etwas zu kurz kommt. Drei unterschiedliche Bühnenbilder, in vornehmlich dezenten Pastelltönen, basieren auf einem schlichten neunzellig-kubischen Stangengerüst. Zu Beginn ist darin eine hölzerne stilisierte Weltesche zu sehen, mit dem Schwert durch die zersprungene Glasplatte eines goldenen Bilderrahmens im Stamm. Im zweiten Aufzug finden sich großen Meteoriten im Kubus, als sei Wotans Walhall aus dem All damit bombardiert worden. Bei den Walküren im dritten Aufzug, die sich auch an einer Heldenleiche anatomisch betätigen, dominieren wieder die goldenen Bilderrahmen mit Torsi und anderen Körperteilen griechischer und römischer Krieger.
Warum diese Bilderrahmen? Tiezzi sieht die „Walküre“ als ein bourgeoises Endzeit-Familiendrama à la „Buddenbrooks“, das seinem Untergang entgegengeht. Das vermag er insbesondere in der Figur des Wotan im zweiten Aufzug in dieser Bildästhetik nachvollziehbar darzustellen. Er könnte auch ein Alfred Krupp mit seinem Industrie-Imperium sein. Dazu passen die goldenen Bilderrahmen als Metapher für den entsprechenden Reichtum. Tiezzi sieht in Wotan aber nicht nur Bezüge zu Thomas Mann, sondern auch Shakespeare’sche Implikationen eines Mannes voller Zweifel wie Hamlet oder Richard II. In seinem Regiekonzept spielt sich die Handlung vor allem im Kopf der Akteure ab, was in manchen Szenen wie ein artifizielles Zurückhalten individueller Emotionen wirkt. Das gilt sogar für die Passion Siegmunds und Sieglindes, die fast wie in Trance agieren.
Jonas Kaufmann weiß dieses Konzept eindrucksvoll umzusetzen, zumal es zur Figur des Siegmund passt. Sein angedunkelter kerniger Tenor ist Garant für eine äußerst einnehmende Rollengestaltung. Christopher Maltman debütiert als Wotan mit großer vokaler und darstellerischer Performance, ganz die zentrale Rolle der Figur in dieser Inszenierung verkörpernd. Okka von der Damerau ist eine stimmlich kraftvolle Brünnhilde, bisweilen mit einer leichten Grellheit in den Spitzentönen. Vida Miknevičiūtė gibt eine exzellente Sieglinde, die hervorragend zu Kaufmann passt, und Varduhi Abrahamyan eine nachdrückliche Fricka. John Relyea besticht durch seinen klangvollen Bass und das Walküren-Oktett ist durchwegs bestens besetzt. Dan Ettinger dirigiert mit viel Verve das Orchestra del Teatro di San Carlo, welches seinen Vorgaben eindrucksvoll folgt.
Dr. Klaus Billand
„Die Walküre“ (1870) // Erster Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner