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Rezensionen 2022/06

Mährische Waldidylle

Wien / MusikTheater an der Wien (Oktober 2022)
Zauber und Grausamkeit in Janáčeks „Schlauem Füchslein“

Wien / MusikTheater an der Wien (Oktober 2022)
Zauber und Grausamkeit in Janáčeks „Schlauem Füchslein“

Das vor 221 Jahren eröffnete Theater an der Wien (wo Uraufführungen wie „Fidelio“ und „Die Fledermaus“ erfolgten) muss generalsaniert werden und so findet die erste große Opernpremiere unter Neo-Intendant Stefan Herheim (und mit dem neuen Titel „MusikTheater an der Wien“) im Ausweichstandort Museumsquartier vor 800 Zuschauern statt.

Der Norweger übernimmt auch die Regie und möchte am Beginn eine Theaterwerkstatt zeigen, wo Illusionen auf die Bühne gebracht werden, um den Zauber des Theaters einzufangen. Sänger und Tänzer sind Handwerker, die Leoš Janáčeks Geist zum Leben erwecken und für Verwandlungskraft stehen. Als die blaue Libelle zu den Klängen eines mährischen Walzers durch die Waldluft schwirrt, beginnt der Kampf in der Tier- und Menschenwelt als gleichberechtigte Figuren, die sich immer wieder zwischen Traum und Wirklichkeit verschmelzen. So wird das strahlend schöne, geheimnisvolle Zigeunermädchen Terynka, das die alternden Männer des Stücks hoffnungslos begehren und bei welchem sie sich ihrer eigenen Vergänglichkeit bewusstwerden, stets mit unschuldigem weißem Schleier und einem Fuchsschwanz dargestellt. Die Regie zeigt aber auch den Kampf der Geschlechter brutal auf, wenn der stolzierende Hahn (Ya-Chung Huang mit kräftigem Tenor) als Macho seine Hennen zu mehr Leistung (an Nähmaschinen) antreibt. Durch die Füchsin und Frauen mit scheinbar nackten Oberkörpern – mit tschechischen Botschaften auf den hautfarbenen Shirts – landet der frauenfeindliche Gockel ebenso in der Mülltonne wie Förster und Dachs (Levente Páll tadellos, allerdings leider ohne Bassgewalt).

Die Waldszenen werden in ästhetischem Licht zwischen Bäumen und romantischen Lichtungen gezeigt, meist bezaubernd, rätselhaft, aber auch verstörend, z.B. wenn der Wilderer Harašta (Marcell Bakonyi kann dunkle, volksliedhafte Stimmung verbreiten) eine blutrote, aus Fleischstücken zusammengebastelte, weibliche Puppe tötet und zum Teil isst, bevor sie als toter Hase die Füchsin in die Falle locken soll. Der Fuchs (Jana Kurucová mit teilweise zu lauter, übersteuernder Höhe) erscheint im eleganten, weißen Sommeranzug und im Kennenlern-Duett mit der lebhaften Fähe harmonieren die Stimmen ausgezeichnet, sodass der Zauber des ersten Verliebtseins gut eingefangen werden kann. Die Französin Mélissa Petit gibt als Füchsin alles: Mit animalischer Energie zeigt sie sich freiheitsliebend, frivol, authentisch und läuft, hüpft und tanzt mit geschmeidigen Bewegungen, während ihr heller Sopran klar und lieblich ertönt. Sie kann auch ihre kämpferische und verletzliche Seite präsentieren, wenn sie in ihrer Kantilene von der Brutalität des Försters singt. Dieser – vom Schweizer Milan Siljanov dargestellt – verfügt über einen tragfähigen Bariton in allen Stimm- und Gemütslagen mit ausreichendem Wohlklang und kann auch darstellerisch als Zerrissener brillieren, der wehmütig auf verpatzte Chancen und Jugend zurückblickt.

Giedrė Šlekytė aus Vilnius leitet die Wiener Symphoniker und den vorzüglichen Arnold Schoenberg Chor mit lebendiger Ausdruckskraft und großem Farbenreichtum und bringt ein wundervoll-musikalisches Naturschauspiel, das heftig bejubelt wird.

Susanne Lukas

„Příhody lišky Bystroušky“ („Das schlaue Füchslein“) (1924) // Oper von Leoš Janáček

Infos und Termine auf der Website des MusikTheaters an der Wien

In der Wüste

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2022)
Wagners „Tannhäuser“ unter Androiden

Lyon / Opéra de Lyon (Oktober 2022)
Wagners „Tannhäuser“ unter Androiden

Die Opéra de Lyon beginnt die neue Spielzeit im mondänen, 1989 vom Architekten Jean Nouvel neugestalteten bogenförmigen Bau zwischen Saône und Rhône wieder mit einer Wagner-Oper, dem „Tannhäuser“. David Hermann inszeniert das Stück mit einer Assoziation an die Frau – im Venusberg – als Prototyp eines weiblichen Androiden. Damit scheint er zum Ausdruck bringen zu wollen, dass die übermenschlich Begehren auslösende Strahlkraft der Frau – einmal geweckt – etwas roboterhaft Unbegrenztes haben kann, vor dem der Mann (hier stellvertretend als Tannhäuser aus Fleisch und Blut) nach einer gewissen Zeit nur noch fliehen kann, ja muss. Instinkthaft animalischen Schutz, Wärme und Geborgenheit suchend, zieht es ihn nach einer gewissen Zeit allerdings wieder dorthin zurück.

So sehen wir schon im Vorspiel den nackten Körper einer modellhaften Frauengestalt als Lichtspiel riesenhaft über der Bühne. Er wird von Fabrice Kebour inspirativ geschickt beleuchtet, reduziert sich dann aber computergesteuert auf die rein mechanischen Komponenten des menschlichen Körpers – wird sozusagen „entsexualisiert“. Vor solch einer androiden Venus möchte Tannhäuser nur noch fliehen. Und das spielt sich in der französischen Fassung, die man in Lyon endlich wieder einmal erleben kann, viel spannender ab als in der Dresdner.

Der Schmachtende findet sich kurz darauf in einer Mars-Wüste wieder, bei der man unwillkürlich an den Film „Der englische Patient“ denkt. Eine schon jetzt völlig ausgepowerte Pilgergruppe wandelt vermummt vorbei, einer bricht trotz intensiver Wiederbelebungsversuche tot zusammen. Der Hirte ist überraschenderweise auch Android und fungiert im weiteren Verlauf offenbar als Scharnier zwischen der „Wartburg“-Welt, die nicht da ist, und dem Venusverlies im Untergrund. Ein riesiger imposanter Spiegel vergrößert dieses Wüstenbild und dominiert auch die Bühne im Schlussakt mit Reflexionen immer neuer interessanter Facetten. Im Mittelakt sieht man einen Militärflughafen in der Wüste. Hier findet ein unkonventioneller Sängerstreit statt, mit Kostümen von Bettina Walter, die eher an einen Sechziger-Jahre-„Parsifal“ an der Met erinnern, aber trotzdem diskussionswerte Fragen verschiedener Art aufwerfen. Ähnlich übrigens wie auch das Finale, in dem sechs Androiden aus dem Venus-Verlies hochkommen.

Stephen Gould ist die vokale Referenz des Abends. Kernig und farbenprächtig sein Heldentenor, vermag er auch darstellerisch die Rolle sehr emphatisch zu gestalten. Johanni van Oostrum ist als Elisabeth zwar engagiert, verfügt aber über zu wenig stimmliches Volumen. Christoph Pohl gibt einen geschmeidig klangvollen und ausdrucksstarken Wolfram, Liang Li einen sowohl persönlichkeitsstarken wie stimmkräftigen Landgrafen. Irène Roberts ist eine Venus mit rollengemäß begrenzter Aktion, aber klangvollem Mezzo. Nach einem eher leichten Beginn im Vorspiel steigert sich das Orchestre de l’Opéra de Lyon im Laufe des Abends zu einer guten Leistung unter der Stabführung von Daniele Rustioni, der auch den hauseigenen Chor dramaturgisch sinnvoll einbindet.

Dr. Klaus Billand

„Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ (1845) // Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website der Opéra de Lyon

Revolution in Hamburg

Hamburg / Stage Operettenhaus (Oktober 2022)
Deutsche Erstaufführung von Lin-Manuel Mirandas „Hamilton“

Hamburg / Stage Operettenhaus (Oktober 2022)
Deutsche Erstaufführung von Lin-Manuel Mirandas „Hamilton“

„Unübersetzbar“ oder „zu amerikanisch für das deutsche Publikum“: Argumente, die im Vorfeld der deutschen Erstaufführung von „Hamilton“ immer wieder gern geäußert wurden. Doch nach dem Jubel, den das Kultmusical aus der Feder von Lin-Manuel Miranda nun nach der Premiere im Hamburger Operettenhaus entfacht, muss wohl so mancher Skeptiker die weiße Fahne ausrollen. Sicher, die vor dem Hintergrund des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges erzählte Geschichte des Gründervaters Alexander Hamilton mag historisch gesehen jenseits des Atlantiks verortet sein. Doch Themen wie Familie, Freiheitsdrang und persönliche Ambitionen bieten auch über die unterhaltsam verpackte Geschichtsstunde hinaus reichlich Identifikationspotenzial.

„Hamilton“ ist ein Stück, das auf vielen Ebenen funktioniert und in jeder Hinsicht aus den klassischen Musical-Klischees ausschert. Statt großem Bühnenspektakel rücken hier voll und ganz die Charaktere selbst ins Zentrum. Wobei die historischen Figuren wie George Washington, Thomas Jefferson oder James Madison auch in Hamburg – wie zuvor bereits in der vielfach preisgekrönten Broadway-Produktion – bewusst multiethnisch gegen den Strich besetzt sind. Als Abbild unserer Lebensrealität und somit ganz am Puls der Zeit. Ähnlich divers ist auch das musikalische Spektrum, das von druckvollen R’n’B- und Hip-Hop-Nummern dominiert wird, aber auch Platz für emotionale Pop-Balladen hat und sich beim Auftritt des englischen Königs George III auch kurz vor den Beatles verneigt. Zu den Highlights zählen dabei aber unbedingt auch die auf dem Papier so trocken erscheinenden Kongress-Debatten, die Miranda als rhetorisch gepfefferte Rap-Battles umsetzt, durch die diese Lektion in Sachen amerikanischer Geschichte zu einem überaus kurzweiligen Nachsitzen wird. Denn auch die deutsche Übersetzung von Kevin Schroeder und Sera Finale fühlt sich durch und durch authentisch an und verleiht dem im Original mit zahlreichen Zitaten gewürzten Libretto durch clevere Verweise auf Fettes Brot oder Sabrina Setlur eine doppelte Staatsbürgerschaft.

Das allein würde freilich noch nicht ausreichen, gäbe es da nicht noch ein handverlesenes Ensemble, das diese Geschichte mit großem Engagement und ungezügelter Energie auf die Bühne bringt. Angeführt von Titelheld Benét Monteiro und Gino Emnes in der Rolle seines politischen Gegners Aaron Burr. Ein starkes Duo, das hier jedoch keine klischeehaften Stereotypen verkörpert, sondern die Grenzen zwischen Held und Antiheld immer wieder verschwimmen lässt. Umrahmt von zahlreichen kleinen Charakterstudien wie Charles Simmons, der George Washington väterliche Autorität verleiht, oder Chasity Crisp, die als innerlich zerrissene Angelica Schuyler zugunsten ihrer Schwester die eigenen Gefühle für Hamilton unterdrückt, ehe auch bei ihr die Emotionen in einer stimmstarken Performance herausbrechen.

„Hamilton“ zeigt eindrucksvoll, was Musical im 21. Jahrhundert abseits der gängigen Klischees auch sein kann. Bleibt zu hoffen, dass das Publikum dieses Wagnis mit der entsprechenden Neugier belohnt.

Tobias Hell

„Hamilton – Das Musical“ (2015) // Musical von Lin-Manuel Miranda in der deutschen Übersetzung von Kevin Schroeder und Sera Finale

Infos und Termine auf der Website von Stage Entertainment

Dramatischer Entwicklungsbogen

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (Oktober 2022)
Richard Strauss’ Oper „Die Frau ohne Schatten“

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (Oktober 2022)
Richard Strauss’ Oper „Die Frau ohne Schatten“

Barak ist ja nun wirklich eine Seele, gutmütig bis zur Selbstaufgabe. Aber jetzt hat sein Weib den Bogen überspannt, jetzt sagt sie möglicher Mutterschaft ab, jetzt ist Schluss. Erdrosseln? Da steckt ihm die Amme, die seiner Frau die Flausen in den Kopf gepflanzt hat, ein Messer zu. Ist sicherer. Womit Barak aber nicht rechnet, sind die lebensliebenden Kräfte der noch Ungeborenen, die die Bluttat vereiteln. Diese Ungeborenen tauchen immer wieder unerwartet auf in Jens-Daniel Herzogs Inszenierung von Richard Strauss’ „Die Frau ohne Schatten“.

Der Hausherr kocht selbst. Eine klare Geschichte möchte er erzählen, dort, wo Hugo von Hofmannsthal in Symbol und Gleichnis und Verwandlungszaubertheater schwelgt. Es will ihm nur ansatzweise gelingen – auch weil das Bühnensetting von Johannes Schütz recht umständlich kreist und zu handhaben ist: eine Leinwand, die mal als Projektionsfläche dient (ein Wohnwagen für das Kaiserpaar, schlussendlich ein Schatten für die Kaiserin!), mal als Raumtrenner, mal als niederzureißende Mauer – und dazu jenes offene Zweizimmer-Gehäuse des Färberpaars, das regelmäßig von der Seitenbühne schwankend hereinschwebt und wieder hinausschwebt, geleitet von der Technik. Das Gekünstelte und seine sichtbare Logistik behindern den natürlichen Fluss einer klaren Geschichte, die im Übrigen ganz kinderkitschfrei nicht enden mag, auch wenn da (Leichen-?)Tücher über das Kaiser- und Färberpaar gebreitet werden.

Halten wir uns an die Personenregie, insbesondere an die der Färberin. Da haben Herzog und die sich fabelhaft steigernde Manuela Uhl eine durchaus neue Sicht in petto: Diese Färberin ist zunächst nicht so hart, höhnisch und aggressiv, wie sie oft umrissen wird. Und das, obwohl doch in Nürnberg ein Schwager zumindest versucht, sie zu vergewaltigen. Diese Färberin bleibt zunächst zurückhaltend, unsicher, vage – bevor sie sich auf den Weg der Selbstbefreiung begibt, nicht wissend, ob es der richtige ist. Aber sie geht ihn mit wachsendem Selbstvertrauen – und kehrt dann doch in den Familien-Schoß zurück. Was für ein dramatischer Entwicklungsbogen, anfangs mephistophelisch geschürt von der Amme, die Lioba Braun als scharf gezeichneten, vokal aber etwas monochromen Charakter gibt. Bis auf seinen Wutanfall singt Thomas Jesatko den Barak ausgeglichen, dienend, ja balsamisch strömend. Das Färberpaar trägt den Abend. Wohingegen der Kaiser (Tadeusz Szlenkier) sängerisch und darstellerisch etwas steif bleibt und Corona-Einspringerin Agnieszka Hauzer (Kaiserin) zur Premiere noch nicht aus dem Vollen schöpft.

Das aber gelingt zunehmend der 100-jährigen Staatsphilharmonie Nürnberg unter der konsequent nach oben dirigierenden, derart musikalischen Bedeutungsballast meidenden Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz. Bleibt der erste Akt noch ein bisschen tastend im Zusammenfinden, entwickelt der zweite und dritte enorme dramatische Schlagkraft, nicht zuletzt dank des Blechs, das Wucht und Transparenz unter einen Hut bringt.

Rüdiger Heinze

„Die Frau ohne Schatten“ (1919) // Oper von Richard Strauss

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Nürnberg

Aus der Not zur Tugend

Köln / Oper Köln (September 2022)
Bemerkenswerter Saisonauftakt mit „Les Troyens“ im Staatenhaus Köln

Köln / Oper Köln (September 2022)
Bemerkenswerter Saisonauftakt mit „Les Troyens“ im Staatenhaus Köln

Oberflächliche Effekthascherei kann man dieser lange unterschätzten französischen Grand opéra wahrlich nicht unterstellen – und wer die vier Stunden reine Spielzeit überstanden hat, weiß ein Lied davon zu singen. Ganze 67 Jahre dauerte es von der ersten – ursprünglich auf zwei Abende verteilten Aufführung – bis zur kompletten Premiere an einem Abend im Londoner Covent Garden. An jenem 6. Juni 1957 war Hector Berlioz bereits 88 Jahre tot, die posthum attestierte Würdigung seines Spätwerks war ihm zu Lebzeiten versagt geblieben.

Man kann davon ausgehen, dass diese Neuinszenierung der Oper Köln (Regie: Johannes Erath) dem Komponisten gefallen hätte. Alle Fäden laufen bei Generalmusikdirektor François-Xavier Roth und dem (herausragenden!) Gürzenich-Orchester Köln zusammen, die während des ganzen Abends auch optisch kreisrunder, ebenerdiger, am Ende sogar drehbarer Mittelpunkt der Bühne sind. Roth und sein Orchester „inszenieren“ das Werk quasi aus der Komposition heraus, legen durch perfektionierte Detailarbeit und schnörkellosen Klang selbst die verborgensten Finessen der Komposition offen. Hier wird nichts verwischt, romantisiert oder übertüncht. Beinahe barock (fast ohne Vibrato in den Streichern!) kommen die einzelnen Phrasen daher – noch dazu im Höllentempo. Es gelingt der beeindruckende Spagat zwischen betörend geradem Klang und überbordendem Ausdruck. Perfekter Sparringspartner: der große, klangstarke und spielfreudige Kölner Opernchor, der trotz darstellerischer Herausforderungen selbst aus dem Off, von hinten, von oben oder aus Nebenräumen nichts von seiner Textverständlichkeit einbüßt. Was jetzt noch fehlt zum musikalischen Großereignis, ist eine dreißigköpfige Riege ausdrucksstarker Gesangssolistinnen und Solisten, die als Menschen und Götter die Szene bevölkern. Auch hier überzeugt die Kölner Produktion mit homogener Ensemble-Leistung ohne Ausfallerscheinungen. Stellvertretend hervorgehoben seien die beiden herausragenden Damen Isabelle Druet (Cassandre) und Veronica Simeoni (Didon).

Und die Bühne? Es ist der große und mutige Regie-Wurf dieser offensichtlich kollegialen, werksbezogenen Teamarbeit, dass Johannes Erath und sein Team (Bühne und Kostüme: Heike Scheele) auf klassische Guckkasten-Szenerie verzichten. Selten war weniger mehr als hier, vermeintliche Einschränkungen des Interims werden zum Glücksfall, und gerade dieses Werk profitiert enorm von solch individueller Bühnenraumgestaltung. Fast halbszenisch und mit fantasievoller Kostümierung wird das starke Musik- auch zum Theaterspektakel. Vorhandene Längen (vor allem im Mittelteil) rücken dezent in den Hintergrund – der durchgehende Ansatz pasticcioartig inszenierter Einzelszenen lässt optische Langeweile erst gar nicht aufkommen. Frei nach dem Motto „Jeder bekommt das Häppchen seiner Wahl“ spielt sich das Geschehen auf der kreisrunden, beleuchteten und drehbaren Catwalk-Bühne rund ums Orchester ab wie auf einem Running-Sushi-Band.

Selbst wer zu Beginn noch überrumpelt war ob dieser „verkehrten“ Opern-Welt, wird am Ende zugeben: Klippen bestmöglich umschifft, Längen überwunden, aus der Not eine Tugend und vor allem – alles richtig gemacht. Bravo Köln!

Iris Steiner

„Les Troyens“ (1890) // Poème Lyrique von Hector Berlioz

Infos und Termine auf der Website der Oper Köln

Im Banne des Vergangenen

Meiningen / Staatstheater Meiningen (September 2022)
Traumabewältigung in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“

Meiningen / Staatstheater Meiningen (September 2022)
Traumabewältigung in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“

Großformatig mit Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ eröffnet das Staatstheater Meiningen die Spielzeit. Als das Werk 1920 zeitgleich in Köln und Hamburg uraufgeführt wurde, war Korngold gerade mal 23 Jahre alt. In Deutschland endete seine Karriere zwar mit dem zur Staatsdoktrin gewordenen Rassenwahn der Nationalsozialisten. In Hollywood jedoch widmete er sich mit einigem Erfolg der Entwicklung der Filmmusik.

In der morbiden „toten Stadt“ Brügge kommt Paul nicht über den Tod seiner Ehefrau Marie hinweg. Er hat sich in einer „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet, ihr Bild und eine Haarsträhne zum Altar erhoben. Wolf Gutjahr übersetzt das düster Gruftige dieser Atmosphäre auf der Drehbühne in ein schmuckloses Labyrinth aus schwarzen Stellwänden. Diverse Leuchtröhrenumrahmungen deuten in ihrem exzessiven Farbwechsel auf das Changieren zwischen Traum und Wirklichkeit. Da Pauls Zufallsbekanntschaft Marietta seiner Marie verblüffend ähnelt, lädt er das Temperamentsbündel in Weiß zu sich ein. Aber er sieht in ihr nicht die lebenslustige Künstlerin und Frau, sondern eine Reinkarnation der Verstorbenen. Der Regisseur Jochen Biganzoli lässt die tote Marie und die lebende Marietta direkt aufeinandertreffen, was zu einem handfesten Kampf eskaliert. Lena Kutzner verkörpert die temperamentvolle Marietta, und der erstklassige Charles Workman steht als ihr Paul auf der Bühne.

Als sich Marietta über den Kult mit den als Reliquie aufbewahrten Haaren der Toten lustig macht, stürzt sich Paul auf seine neue Bekanntschaft und erwürgt sie. Doch es scheint nur so, denn dieser Mord ist der Höhepunkt eines Alptraumes mit heilsamer Wirkung. Als Paul auf dem Sofa wieder erwacht, taucht Marietta quicklebendig erneut bei ihm auf, denn sie hat ihren Schirm und ihre Rosen vergessen… Ein Traum mit Mord hat ihm den Traum von der Wiederkehr der Toten zerstört – so resümiert Paul das Geschehen und Korngold seine Oper. Diesen psychologisierenden Exkurs in Sachen Traumabewältigung erweitert Biganzoli noch vor Beginn der Oper durch einen Film, samt des zusätzlichen Korngold-Satzes „Lento religioso“ aus der „Sinfonischen Serenade“. Der junge Paul im Film, der sich von seiner bei einem Autounfall verunglückten Frau in der Pathologie verabschiedet, findet letztlich keinen Ausweg aus der Leere. Während sich für den Paul der Oper die Option einer Rückkehr ins Leben eröffnet, erschießt sich der Paul im Video in einem wogenden Kornfeld.

Am Pult der Hofkapelle sorgt Chin-Chao Lin für den schwelgerischen Überwältigungston, den diese Musik braucht. Auch jede kleinere Rolle ist vorzüglich besetzt. Ganz gleich ob zum ersten Mal oder als Wiederbegegnung – „Die tote Stadt“ ist auch in Meiningen ein Hörerlebnis.

Roberto Becker

„Die tote Stadt“ (1920) // Oper von Erich Wolfgang Korngold

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Meiningen

Für eine bessere Welt

Wien / Musiktheatertage Wien (September 2022)
„Chornobyldorf“ als beeindruckende Talentshow von Opera Aperta

Wien / Musiktheatertage Wien (September 2022)
„Chornobyldorf“ als beeindruckende Talentshow von Opera Aperta

Mit Musikstilen und neuen Technologien experimentieren, an ungewöhnlichen Orten spielen, gesellschaftsrelevante Themen aufgreifen: Die jährlich im September stattfindenden Musiktheatertage in Wien nehmen sich auf dem Gebiet des zeitgenössischen Musiktheaters stets einiges vor. Die künstlerischen Leiter Georg Steker und Thomas Cornelius Desi sind auf der Suche nach dem Unkonventionellen und und werfen vor allem auf den Begriff „Oper“ ein grelles Licht. Sie hinterfragen die Codes, die angeblich omnipräsent sind, um eine „normale“ Opernaufführung zu verstehen und ohne deren Verständnis eine Ausgrenzung stattfindet.

Beim ersten Eröffnungsstück des Festivals „Walküre, den Felsen herabsteigend“ stellt sich die Frage: Welche Codes müsste man hier kennen? Lautes Motorengeräusch von acht Choppern knarrt aus den Lautsprechern. Sie stehen für Wotans Töchter, die neunte schwebt auf einem Kran über dem Innenhof des WUKs und singt verzweifelt gegen den Krach und das murmelnde Publikum an (tapfer: Christiane Döcker). Dieser Auftakt kommt doch ein wenig zu spekulativ daher, also volle Vorfreude auf das zweite Stück des Abends: „Chornobyldorf“ von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko ist eine Produktion der ukrainischen Opera Aperta.

Schnell steigt der Interessenspegel, wenn diese Formation in Fahrt gerät. Jedes der sieben Teile beginnt auf zwei riesigen Bildschirmen mit einem Film, der die kommende Szene anteasert: das Mädchen mit dem Akkordeon (ein Highlight), die tote Eurydike, ein Paar in der Kirche, die Menschen im See, um einige zu nennen. Dann übernehmen die Performer, Sänger, Tänzer und Musiker die jeweilige Szene und gestalten sie live weiter. Jeder Musikstil ist gefragt. Musiziert wird mit vielen verschiedenen Instrumenten und gesungen mit jeder erdenklichen Möglichkeit, zu der die menschliche Stimme fähig scheint. Barockarien treffen auf wildes Gekreische, Volkslieder auf Techno. Opera Aperta setzt sich in „Chornobyldorf“ logischerweise mit der Nuklearkatastrophe auseinander und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Menschen, die Gesellschaft und die Ökologie.

Der Inhalt der einzelnen Szenen ist oft nicht klar für den Zuschauer interpretierbar. Bald aber schiebt man die Verständnisfrage einfach beiseite und genießt die Talentshow. Von den 15 Mitwirkenden kann scheinbar jeder alles: singen (und wie gut!), spielen, musizieren, performen, mit Körperlichkeit experimentieren. Der wilde Musik-Mix gipfelt gegen Ende des Stücks in einem eindrucksvollen Kanon aller Beteiligten. Opera Aperta, übrigens vor kurzem auch bei der Ars Electronica in Linz zu erleben, hätte viele Auftritte in Europa verdient. Die Wirklichkeit holt den Zuschauer beim Schlussapplaus ein, wenn die Ensemblemitglieder ukrainische Fahnen fest in ihren Händen halten und wohl an ihre Familie und Freunde zu Hause denken, während sie den wohlverdienten Zuspruch des Publikum genießen.

Susanne Dressler

„Chornobyldorf“ (2020) // Archaeological Opera von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko

Infos und Termine auf der Website der Musiktheatertage Wien

Glamouröser Bollywood-Bombast

Bayreuth / Bayreuth Baroque Opera Festival (September 2022)
Vergnügliche Wiederentdeckung von Leonardo Vincis „Alessandro nell’Indie“

Bayreuth / Bayreuth Baroque Opera Festival (September 2022)
Vergnügliche Wiederentdeckung von Leonardo Vincis „Alessandro nell’Indie“

Ohne Besetzungszettel würde man wohl kaum glauben, dass alle Figuren von Männern verkörpert werden. Vor allem deshalb nicht, weil der treffliche Sopranist Bruno de Sá verblüffend wie eine Frau singt und spielt. Auch aufgrund seiner zierlichen Erscheinung gibt der Brasilianer überzeugend die Königin Cleofide. Eine simple Travestie-Parade ist diese zweite szenische Produktion beim noch jungen Festival Bayreuth Baroque folglich nicht, auch wenn sie subtil einen Beitrag zur Genderdebatte leistet. Vielmehr spielt sie auf die Tradition im 18. Jahrhundert an, als die Geistlichkeit Frauen den Zugang zur Bühne verwehrte.

Als Countertenor mischt sich der Festivalchef Max Emanuel Cencic diesmal nicht unter sein Ensemble, aber seine Regiearbeiten werden zunehmend genialer. „Alessandro nell’Indie“, eine unbekannte Oper von Leonardo Vinci (1690-1730 und nicht zu verwechseln mit dem berühmten Maler), besticht jedenfalls als vergnüglicher Augenschmaus mit opulenter Ausstattung und augenzwinkernden ironischen Brechungen. Domenico Franchis Bühne strotzt nur so vor imposanten Dekors, spektakulären Tänzen (Choreografie: Sumon Rudra), Messerkämpfen, goldenen Elefanten, exotischem Flair und Bollywood-Bombast, und auch die glamourösen Roben (Kostüme: Giuseppe Palella) bilden einen herrlichen Blickfang in dem nicht minder prächtigen Markgräflichen Opernhaus. Mit Alexander dem Großen und seinem Feldzug nach Indien hat das alles wenig zu tun, weshalb es probat erscheint, dass Cencic die Handlung zur Zeit des britischen Königs George IV. ansiedelt. Letztlich geht es um Liebesaffären, Eifersüchteleien und Missverständnisse zwischen zwei herrschaftlichen Lagern, dem makedonischen unter Alexander und einem indischen unter König Poro und seiner geliebten Cleofide.

Musikalisch ist dieser „Alessandro“ gleichermaßen ein Fest, dies allein schon dank affektreicher Arien, Rezitative und Duette, die fünf Stunden wie im Fluge vergehen lassen und ihrem melodischen Einfallsreichtum dem wohl bedeutendsten Barockopernkomponisten Georg Friedrich Händel in nichts nachstehen. Nicht alle Sänger-Protagonisten präsentieren sich von Beginn an stimmlich so in Hochform wie der mit stehenden Ovationen gefeierte Bruno de Sá oder der Countertenor Nicholas Tamagna als Alessandros Feldherr Timagene, steigern sich aber von Akt zu Akt. In den Spitzen seiner virtuosen Koloraturen tönt der Countertenor von Franco Fagioli mitunter recht eng. Und Maayan Licht in der Titelrolle gewinnt erst ab dem zweiten Akt an stimmlicher Präsenz. Und doch haben auch diese beiden große Momente. In einer der schönsten Arien dialogisiert Fagioli sehr beredt mit der Solo-Violine. Martyna Pastuszka, die das Residenzorchester des Festivals mit ihrer Violine aus dem Graben souverän, stilsicher und hoch engagiert leitet, kommt für diese Nummer auf die Bühne, wo sie und der Sänger einander räumlich und musikalisch brillant umspielen.

Kirsten Liese

„Alessandro nell’Indie“ (1740) // Dramma per musica von Leonardo Vinci

Infos und Termine auf der Website des Bayreuth Baroque Opera Festivals

Das Ringen mit der Zeit

Internet / TRIO vis-à-vis (September 2022)
Urstream des digitalen Musiktheaters »Penelope« von Helena Cánovas Parés

Internet / TRIO vis-à-vis (September 2022)
Urstream des digitalen Musiktheaters »Penelope« von Helena Cánovas Parés

Penelopes Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Sie kämpft mit den Tränen. Verzweifelt versucht sie, Worte zu formen. Helena Cánovas Parés und Maike Graf gehen in ihrem digitalen Musiktheater »Penelope. Eine Studie über das Warten« in neun Bildern dem Phänomen des Wartens nach. Helena Cánovas Parés, die 2021 mit dem Carmen Mateu Young Artist European Award ausgezeichnet wurde, hat ihre Komposition expressiv verdichtet. Bruchstücke von Melodien wechseln ab mit einzelnen verzerrten Klängen, die mitunter schrill hervortreten, mehrfach wiederholt werden und ersterben. Die Zeit steht still im Warten. Es gibt keinen musikalischen Fluss, der voranschreitet. Ebenso bruchstückhaft hat die Autorin und Künstlerin Maike Graf, die Musiktheater und experimentelle Formate schreibt, das Libretto entworfen. Es beschränkt sich auf einzelne Worte und Silben sowie kurze Sätze und Satzfragmente. In vergeblichen Versuchen, Vergehen und Dauer zu erfassen und zu messen, erweist sich in ihm ein auswegloses Ringen mit der Zeit.

Inspirieren ließ sich Maike Graf von Homers Epos »Odyssee«, in dem Penelope zwanzig Jahre lang treu auf die Heimkehr ihres Gatten Odysseus nach Ithaka wartet und all die Freier, die ihr Haus umlagern, abweist. »Zu warten heißt zu lieben«, lautet ein zentraler Satz des Librettos. Und »keusch« ist denn auch das erste Wort, das Natasha López als Penelope, schwer atmend, stockend und immer wieder neu ansetzend, formt. Sie lotet in ihrer Darstellung das gesamte Spektrum stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten aus. Vom gehauchten Flüstern bis zum schrillen Schreien und vom rhythmischen Sprechen bis zum Gesang. Nicht nur das Zeitempfinden ändert sich im Warten, auch der Blick auf die Wirklichkeit verschwimmt. Das Warten schafft seine eigene Welt. Penelope webt ihren Wartesaal. Vorfreude hat im ungewissen Warten keinen Raum.

Das 2012 gegründete Stuttgarter Neue Musik Ensemble TRIO vis-à-vis, dem neben López der Flötist Guillermo González und der Cellist Hugo Rannou angehören, bringt diese verfremdete Sicht in seiner Aufführung durch die Reduktion des Bildausschnitts und der Farben sowie der zerfließenden Konturen auf raffinierte Weise zum Ausdruck. Und das zeichnet diesen Urstream des digitalen Musiktheaters aus. Er ist nicht eine bloß abgefilmte Aufführung, sondern die Künstler arbeiten mit den Mitteln, die die digitale Welt bietet und schaffen ein eigenständiges Kunstwerk. Die Musiker erinnern mit der Aufführung zudem an die Flötistin Maria Kalesnikava. Sie gehörte ab 2017 dem Trio an. Als Bürgerrechtlerin und wichtige Vertreterin der demokratischen Opposition, die dem Gewaltregime von Aljaksandr Lukaschenka ein demokratisches und freies Belarus entgegensetzen, befindet sie sich seit 2020 im Gefängnis.

Ruth Renée Reif

»Penelope. Eine Studie über das Warten« (2022) // Digitales Musiktheater von Helena Cánovas Parés

Das digitale Werk ist im Internet verfügbar

Wenn die Vögel mitreden

Weimar / Deutsches Nationaltheater und Musikfest Weimar (September 2022)
Jörn Arneckes Musiktheater „Welcome to Paradise Lost“

Weimar / Deutsches Nationaltheater und Musikfest Weimar (September 2022)
Jörn Arneckes Musiktheater „Welcome to Paradise Lost“

Mit einer Opernnovität politischer Brisanz eröffnet das Deutsche Nationaltheater Weimar seine Saison. Andrea Moses, die Direktorin des Hauses, setzt in Zusammenarbeit mit dem Kunstfest Weimar „Welcome to Paradise Lost“ von Falk Richter und Jörn Arnecke in Szene. Mit dem Ausstatter Christian Wiehle nutzt sie den rauen Charme und die Möglichkeiten des alten e-werks als niedrigschwellige Opern-Spielstätte. Vom Saal geht es für das Publikum und die Akteure in den Vorraum, von da auf den Vorplatz und wieder zurück. Dieser Perspektivenwechsel hilft über die allzu agitatorischen Klippen des Textes hinweg.

Richter greift in seinem 2018 geschriebenen Stück die über 800 Jahre alte persische Vorlage „Die Konferenz der Vögel“ auf und durchsetzt sie mit Gegenwart. Allerdings sind Greta-Thunberg-O-Töne auf einer Bühne keineswegs per se überzeugender, als wenn die mit Sprache begabten Vögel ihre Untergangsängste und Überlebensinteressen artikulieren. Die aktivsten von ihnen wollen bei Gott vorstellig werden. Auf dem Weg dahin – u.a. über sieben Täler – kommen sie zu der Überzeugung, dass sie keinen König brauchen, sondern selbst einer sind und Schwarmintelligenz auch einiges zu bewegen vermag.

Die Rolle der bedrohten Spezies übernimmt ein imponierend agierendes 16-köpfiges Chorkollektiv aus Weimarer Jugendlichen. Neben den Profis (Ylva Sofia Stenberg, Heike Porstein, Sarah Mehnert, Noa Frenkel, Alexander Günther, Agil Abdukayumov und der Schauspieler Jonas Fürstenau) zeigen die jungen Menschen-Vögel Engagement und Spielfreude – mit und ohne Vogelkopfmasken. Sie wollen aufrütteln, wachrufen, appellieren. Die schwedische Schulstreikerin ist freilich längst zur Ikone einer Bewegung mit weltweiten Vermarktungsmechanismen geworden. So berechtigt die Anliegen auch sind, eine Gleichsetzung unterschiedslos aller Regierenden bleibt ebenso fragwürdig wie das Ausblenden demokratischer Mechanismen.

Immerhin werden Gegenargumente mitgeliefert. Da ist der Lehrer, der zu Wort kommt und Verständnis mit Erfahrung mischt. Und da sind die Vögel respektive protestierenden Jugendlichen, die sich radikalisieren und den Zuschauern auf dem Vorplatz nicht nur „our futur is in your hand“ vor das Gesicht halten, sondern auch Brandflaschen basteln. Sofern der Text dominiert, bleibt der Abend agitproplastig. Wenn die Musik von Jörn Arnecke (unter der kundigen Leitung von Andreas Wolf) die Oberhand gewinnt, wird er zur Kunst. Mit einem Gespür für den Klang der Vogelstimmen übersetzt der Weimarer Komponist und Musikprofessor die Sprache der Vögel in die des 15-köpfigen Orchesters. Dieses Zwitschern und Tirilieren erobert denn auch an diesem Abend mehr Herzen für den Erhalt der bedrohten Spezies als jede griffige Parole.

Roberto Becker

„Welcome to Paradise Lost“ (2022) // Musiktheater von Jörn Arnecke

Infos und Termine auf der Website des Nationaltheaters