Mit Musikstilen und neuen Technologien experimentieren, an ungewöhnlichen Orten spielen, gesellschaftsrelevante Themen aufgreifen: Die jährlich im September stattfindenden Musiktheatertage in Wien nehmen sich auf dem Gebiet des zeitgenössischen Musiktheaters stets einiges vor. Die künstlerischen Leiter Georg Steker und Thomas Cornelius Desi sind auf der Suche nach dem Unkonventionellen und und werfen vor allem auf den Begriff „Oper“ ein grelles Licht. Sie hinterfragen die Codes, die angeblich omnipräsent sind, um eine „normale“ Opernaufführung zu verstehen und ohne deren Verständnis eine Ausgrenzung stattfindet.

Beim ersten Eröffnungsstück des Festivals „Walküre, den Felsen herabsteigend“ stellt sich die Frage: Welche Codes müsste man hier kennen? Lautes Motorengeräusch von acht Choppern knarrt aus den Lautsprechern. Sie stehen für Wotans Töchter, die neunte schwebt auf einem Kran über dem Innenhof des WUKs und singt verzweifelt gegen den Krach und das murmelnde Publikum an (tapfer: Christiane Döcker). Dieser Auftakt kommt doch ein wenig zu spekulativ daher, also volle Vorfreude auf das zweite Stück des Abends: „Chornobyldorf“ von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko ist eine Produktion der ukrainischen Opera Aperta.

Schnell steigt der Interessenspegel, wenn diese Formation in Fahrt gerät. Jedes der sieben Teile beginnt auf zwei riesigen Bildschirmen mit einem Film, der die kommende Szene anteasert: das Mädchen mit dem Akkordeon (ein Highlight), die tote Eurydike, ein Paar in der Kirche, die Menschen im See, um einige zu nennen. Dann übernehmen die Performer, Sänger, Tänzer und Musiker die jeweilige Szene und gestalten sie live weiter. Jeder Musikstil ist gefragt. Musiziert wird mit vielen verschiedenen Instrumenten und gesungen mit jeder erdenklichen Möglichkeit, zu der die menschliche Stimme fähig scheint. Barockarien treffen auf wildes Gekreische, Volkslieder auf Techno. Opera Aperta setzt sich in „Chornobyldorf“ logischerweise mit der Nuklearkatastrophe auseinander und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Menschen, die Gesellschaft und die Ökologie.

Der Inhalt der einzelnen Szenen ist oft nicht klar für den Zuschauer interpretierbar. Bald aber schiebt man die Verständnisfrage einfach beiseite und genießt die Talentshow. Von den 15 Mitwirkenden kann scheinbar jeder alles: singen (und wie gut!), spielen, musizieren, performen, mit Körperlichkeit experimentieren. Der wilde Musik-Mix gipfelt gegen Ende des Stücks in einem eindrucksvollen Kanon aller Beteiligten. Opera Aperta, übrigens vor kurzem auch bei der Ars Electronica in Linz zu erleben, hätte viele Auftritte in Europa verdient. Die Wirklichkeit holt den Zuschauer beim Schlussapplaus ein, wenn die Ensemblemitglieder ukrainische Fahnen fest in ihren Händen halten und wohl an ihre Familie und Freunde zu Hause denken, während sie den wohlverdienten Zuspruch des Publikum genießen.

Susanne Dressler

„Chornobyldorf“ (2020) // Archaeological Opera von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko

Infos und Termine auf der Website der Musiktheatertage Wien