Dieser „Don Giovanni“ überlebt den respektlos originellen Zugriff, mit dem der russische Regisseur und Ausstatter Kirill Serebrennikov dem dritten Teil seiner Mozart/Da-Ponte-Trilogie für die Komische Oper Berlin zu Leibe rückt. Und das in gleich doppelter Hinsicht. Zunächst überlebt der Titelheld – irgendwie jedenfalls. Während der Ouvertüre findet sich zwar eine illustre Trauergesellschaft an seinem offenen Sarg ein. Aber der Tod stellt sich vorerst als Irrtum heraus. Die Geschichte seines letzten Tages geht als Abfolge von Erinnerungen und Visionen jetzt erst richtig los. Anfangs im Krankenbett, mit der zunächst hochschwangeren Zerlina (Penny Sofroniadou) und dem biederen Masetto (Philipp Meierhöfer) als Pflegepersonal.

Am Ende nach dem Ende, in diesem Falle zum Finale des nach der Höllenfahrt des Verführers angefügten Mozart-Requiems, lebt er beziehungsweise sein Seelen-Alter-Ego immer noch und schreitet in der Horizontalen nach oben gen Schnürboden, also vielleicht gen Himmel. Als Befreiung von was auch immer. Für seinen Lebenswandel und seine Vorstellung von sexueller Selbstverwirklichung wird er diesmal jedenfalls nicht exemplarisch „bestraft“. Auch dem Commendatore (Tijl Faveyts) stellt der Regisseur mit dem Schauspieler Norbert Stöß ein überlebendes Seelen-Alter-Ego an die Seite. Der unterbricht die Musik immer wieder mit Weisheiten aus dem „Tibetischen Totenbuch“ über den Zustand zwischen Leben und Tod und das Sterben. Wobei James Gaffigan das Orchester der Komischen Oper so im Griff hat, dass die übergreifende Wirkung der Musik im Bündnis mit den singenden Protagonisten nicht unterbrochen wird.

Musikalisch gravierender ist die Übergabe der Position von Don Giovannis energischster Verflossener Donna Elvira an einen Don Elviro. Sopranist Bruno de Sá bewältigt dieses besondere Debüt mit vokaler Hochseilartistik und darstellerischer Verve. Hubert Zapiór als Don Giovanni und Tommaso Barea als Leporello stehen ihm sowohl mit ihrer vokalen Jugendlichkeit und ihrem Oberkörper-frei-Sexappeal in nichts nach. Der Witz der anderen Perspektive (der Erweiterung von Don Giovannis Zielgruppe auf Männer) konkurriert zwar mit der vokalen Ensemble-Balance. Da die Regie aber das Dramma giocoso ernst nimmt, gibt es jede Menge szenischen Witz als Ausgleich. Und mit Adela Zaharia eine überragende, in jeder Hinsicht großformatige Donna Anna, in deren Schatten der Don Ottavio von Agustín Gómez auch vokal keine echte Chance hat.

Dieses Spiel der Verführung als Erinnerung oder Vision zwischen Leben und Tod findet in einem System von unterschiedlich großen, abstrakten Holzkisten statt, die ebenso beweglich sind, wie die jede drohende szenische Leerstelle sofort füllenden, in der Choreografie von Evgeny Kulagin performenden drei Geister und Gedankenformen. Dieser Perspektivwechsel gefällt nicht jedem, aber diese „Oper aller Opern“ überlebt das.

Roberto Becker

„Il dissoluto punito ossia Il Don Giovanni“ ( 1787) / Dramma giocoso von Wolfgang Amadeus Mozart

Requiem in d-Moll (Introitus, Kyrie, Sequenz) (1791) // von Wolfgang Amadeus Mozart, in der von Franz Xaver Süßmayr fertiggestellten Instrumentation

Infos und Termine auf der Website der Komischen Oper Berlin