Missy Mazzolis „The Listeners“ an der Lyric Opera zeigt, wie „Oper der Zukunft“ aussehen könnte. Und wie man sein Publikum für moderne Kompositionen begeistert
von Iris Steiner
Zugegeben, es war nicht einmal US-Premiere, was da am 30. März an der Lyric Opera unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit erstmals auf die Bühne kam. Nach der Uraufführung in Oslo 2022 mit Übernahme nach Philadelphia 2024 handelte es sich genau genommen schon um die letzte Station der Gemeinschaftsproduktion zwischen den drei Opernhäusern. Von Beginn an erfuhr das Werk der amerikanischen Shootingstar-Komponistin Missy Mazzoli und des kanadischen Librettisten und Filmemachers Royce Vavrek internationale Anerkennung von Kritikern und Publikum. Im Januar gab es am Aalto-Musiktheater Essen eine ebenfalls vielbeachtete deutsche Erstaufführung in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler. Und auch Opernhäuser in Australien und Kanada bekunden Interesse. Gelingt hier einer neuen Oper der Sprung ins breite Publikum?
Emotionale Charakterstudien zwischen Tonalität und Atonalität
Bereits die literarische Grundlage, der Roman „Das Summen“ von Bestsellerautor Jordan Tannahill, war ein internationaler Publikumserfolg. Librettist Vavrek weiß die emotionale und düstere Geschichte rund um menschliche Erfahrungen und aktuelle gesellschaftliche Themen für Libretto und Konzept zu nutzen. Nicht zum ersten Mal bewährt sich auch das Team Mazzoli/Vavrek: Nach „Breaking the Waves“ (2016) und „Proving Up“ (2018) ist „The Listeners“ bereits ihre dritte gemeinsame Oper. Mazzoli erklärte öffentlich, dass sie „etwas über Macht-Ungleichgewichte und eine Frau mittleren Alters, die sich in einer Extremsituation wiederfindet“ schaffen wollte. Sie sei „interessiert daran gewesen, wie manche Menschen, häufig Männer, zu Anführern von Gruppen werden, wie sie ihren Weg zur Macht manipulieren und vulnerable Menschen ausbeuten“. Auch das Phänomen des „globalen Summens“, von dem Studien zufolge bis zu vier Prozent der Weltbevölkerung betroffen seien, eigne sich „perfekt für das Musiktheater, da es sich um eine akustische Erscheinung handelt“. Im Ergebnis liefert „The Listeners“ eindringliche Charakterstudien mit emotionaler Tiefe und dreht sich inhaltlich um Isolation sowie die Suche nach menschlichen Verbindungen.

Mazzolis Musiksprache, bekannt für ihre Vielschichtigkeit und den experimentellen Ansatz, kombiniert einmal mehr traditionelle klassische Elemente mit elektronischen Klängen und unkonventioneller Instrumentierung. Eine Klangwelt zwischen „vertraut“ und „neuartig“ sowie häufige repetitive musikalische Muster erzeugen dazu intensive emotionale Wirkung. Die Komponistin beherrscht das Spiel mit kraftvollen wie subtilen Mitteln – manchmal hat ihre Musik geradezu hypnotische Wirkung. Ein wenig wie bei Filmmusik übrigens, obwohl die Komposition keineswegs als „Begleitfunktion“ zur Handlung abgetan werden kann. Ganz im Gegenteil: Sie prägt die Gesamtstimmung und verschmilzt mit der Energie der einzelnen Szenen. Die 44-jährige US-Amerikanerin jongliert mit Melodien à la Puccini ebenso gekonnt wie mit komplexen Harmonien und kontrastierender Rhythmik. Durch etwa den Einsatz von Glissandos wird aus einer Dissonanz schnell mal eine Konsonanz. „Slippery“ nennt Dirigent Enrique Mazzola diese Tonalität und den Werksstil insgesamt „melodical-dramatical“: „Missy weiß, wie man für Stimmen schreibt und für Orchester.“
Für Chicagos Music Director, dessen Vertrag gerade bis 2031 verlängert wurde, war die Produktion auch in anderer Hinsicht eine Besondere. „Wenn die Komponistin in unsere Arbeit selbst involviert ist und unmittelbar hinter einem sitzt, ist das nicht nur ungewohnt, sondern macht auch ungleich nervöser. Zumal die Orchestrierung alles andere als leicht ist und die Partitur riesig.“ Zweimal eine Stunde dauert die Oper. „Man ist die ganze Zeit irgendwie in Trance“, beschreibt Mazzola die künstlerische Spannung. „Die Komposition folgt meisterhaft einem großen musikalischen Bogen und zugleich vielen Einzelaspekten.“
Neue Oper – In Chicago bereits Tradition
John Mangum, seit einem halben Jahr General Director, sieht die Erfolgsaussichten des Werkes noch von einer anderen Seite: „Ich habe ,The Listeners‘ von meinem Vorgänger geerbt, da die Verträge natürlich schon vor Jahren geschlossen wurden. Aber ich bin sehr glücklich mit dieser Produktion, Missy Mazzoli und Royce Vavrek haben einen hohen Bekanntheitsgrad in Chicago – beim Publikum und unseren Sponsoren.“ Nicht zuletzt folgt man auch der bestehenden Tradition, moderne amerikanische Oper im Programm zu etablieren. „Wir haben mittlerweile ein Publikum entwickelt, das bereits darauf wartet.“ Immerhin fünf Mal steht „The Listeners“ auf dem Spielplan – bei der Größe des Hauses für potenzielle 16.000 Besucherinnen und Besucher. „Wir haben ziemlich große Erfahrung darin, wie die Produktion neuer Stücke auch wirtschaftlich funktionieren kann“, meint Mangum. „Fünf Vorstellungen sind demnach schon eine Aussage – selbst Beethovens ,Fidelio‘ hatten wir nur sechsmal im Programm.“ Man arbeitet im Stagione-Betrieb und sollte im fast komplett privat finanzierten US-Kultursystem eines immer im Auge behalten: Auch die zahlreichen Sponsoren und „Boards“ müssen mit im Boot sein.
Ob die realitätsnahe Inszenierung mit dem sehr amerikanischen „Schulklasse- und Wohnhaus-Setting“ (Bühne: Adam Rigg) zur Akzeptanz beim Chicagoer Publikum beiträgt, kann man nur vermuten. Zumindest rief der Charakter der Nachrichtensprecherin im zweiten Teil – offensichtlich eine perfekte Imitation des Archetypen lokaler amerikanischer News-Stationen – zahlreiche spontane Lacher im Publikum hervor. Und auch die englische Sprache der Oper sei in dieser Hinsicht ein deutlicher Pluspunkt, erklärt Mangum. „Gerade, weil unsere Thematik – Isolation und Einsamkeit – sehr aktuell und unsere Inszenierung nah am Leben ist, möchten wir, dass die Menschen sich auch durch ,ihre‘ Sprache ein Stück weit abgeholt fühlen.“


„Networking“ – der Schlüssel zum Erfolg
Seit ihrer Gründung 1954 ist die Lyric Opera of Chicago fester Bestandteil des kulturellen Lebens der Stadt. Verortet im „Civic Opera House“, einem architektonisch beeindruckenden Art-déco-Gebäude aus dem Jahr 1929, spielt man neben dem breiten klassischen Repertoire traditionell auch moderne, amerikanische Opern und legt großen Wert auf Bildungs- und Outreach-Programme. In einem System, das ein Jahresbudget von gut 75 Millionen Dollar am zweitgrößten Opernhaus der USA großteils durch privatwirtschaftliche Finanzierung stemmen muss, ist die Einbindung in die Stadtgesellschaft ohnehin überlebenswichtig. „Den Hauptanteil erwirtschaften wir aus Ticketeinnahmen und durch Fundraising, was meine allererste Aufgabe als General Director ist und sicher 50 Prozent meiner Arbeitszeit ausmacht“, erklärt Mangum. „Ein signifikanter Unterschied zu Kollegen in Deutschland und Europa.“
Wie viele Kulturinstitutionen in den USA besitzt auch die Lyric Opera ein sogenanntes „Board of Directors“, eine gewachsene Gemeinschaft aus Spendern, Unterstützern und Opernliebhabern, die dem Betrieb nicht selten auch mit ihrer Wirtschafts- und Politikexpertise unter die Arme greifen. Und erst vor wenigen Wochen freute man sich über die sagenhafte 25-Millionen-Dollar-Einzelspende der Kunstliebhaberin Penelope Steiner. Als langjähriges aktives Mitglied im Unterstützer-Board sorgt sie damit nun für neue künstlerische Perspektiven und wünscht sich nicht zuletzt „künstlerisches Top-Level“ auf der Bühne. Mit Generalmusikdirektor Mazzola pflegt sie auch eine persönliche Freundschaft. „Sie weiß, dass ich nicht nur dirigieren möchte, sondern dass es mir um mehr geht und ich dieses Haus entwickeln möchte“, meint der Italiener mit Geburtsort Barcelona. Und gibt auch gleich zu, dass für ihn ein privat finanziertes System zunächst ungewohnt war. „Ich habe immer gedacht, staatliche Zuschüsse seien im Kulturbetrieb ,normal‘. Das ist aber eigentlich eine anonyme Sache, der Staat hat ja kein Gesicht. Hier kennt man im Gegensatz dazu jeden Einzelnen, der unsere Kunst unterstützt. Diese Leute sitzen hinter Dir im Publikum – und man kann sich auch mal bei ihnen bedanken.“

So ist die Großspende dann auch gut eingebettet – in eine Vision, die man hier „Oper der Zukunft“ nennt: Gemeint sind (auch) Koproduktionen und Partnerschaften mit amerikanischen und europäischen Häusern. Mangum denkt pragmatisch: „Da die meisten Menschen hauptsächlich ihr lokales Opernhaus besuchen, kann man diesen Kompromiss gut vertreten.“ Und auch im internen Arbeitsalltag eines Generalmusikdirektors lassen sich unmittelbare Auswirkungen feststellen, die Mazzola erst in Chicago gelernt hat. „Musical Director ist hier auch eine soziale Position, die stark netzwerkt und Kontakte pflegt. Alles ist sehr persönlich und viel mehr als ein Geschäft. Eine Art, die meinem Wesen sehr entgegenkommt. Ich glaube übrigens, dass wir in Europa zukünftig ebenfalls viel mehr Wert auf solche Dinge legen müssen in Zeiten, in denen staatliche Zuschüsse zurückgehen.“
Und selbst drohender „Cancel Culture“ eines Donald Trump sieht das Team Mangum/Mazzola gelassen entgegen. Sie wissen ihr Publikum hinter sich. „Wir haben eine Vereinbarung mit der Stadt Chicago, abgesehen davon sind wir unabhängig und leben hier in einer der diversesten Gesellschaften der Welt. Es ist uns vor allem wichtig, für unser Publikum zu spielen. Und zusammen mit der Met die neue amerikanische Oper zu formen.“
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2025