Zum Tod von Bernard Haitink
von Dr. Wolf-Dieter Peter
So geht es in unseren Zeiten des Spektakulären, Grellen, Sensationellen erfreulicherweise auch: einfach Können. Doch das auf höchstem Niveau. Und noch einmal erfreulich: einfach solide und „künstlerisch gesund“ gewachsen. Das prägt den Gesamteindruck der internationalen Dirigentenpersönlichkeit Bernard Haitink. Prompt sagte ihm der damals führende englische Musikkritiker: „Sie sind viel zu vernünftig für einen Dirigenten.“
Schritt für Schritt zur Weltkarriere
Der 1929 in Amsterdam geborene Haitink absolvierte erst nach dem Violin-Studium eine zweijährige Dirigier-Ausbildung. Als prägende Persönlichkeit nannte er später immer wieder Ferdinand Leitner. Der bot ihm eine Stelle in Stuttgart an und half dann bei Haitinks Entscheidung: Zweiter Dirigent beim Niederländischen Radioorchester. Laufbahn-typisch: 1956 ein Einspringen für Carlo Maria Giulini beim Royal Concertgebouw Orchestra, weitere Engagements über acht Jahre hinweg und dann 1964 Künstlerischer Direktor dieses Elite-Ensembles. Ihm blieb er lebenslang verbunden – mit kritischen, nie persönlichen, immer künstlerisch motivierten Bruchstellen: Einmal wendete seine Kündigungsdrohung drastische finanzielle Kürzungen ab, die 23 Instrumentalisten ihre Stellung gekostet hätte; Jahre später konnte ein Streit über schon gestrichene Assistenten-Stellen durch einen Sponsor beigelegt werden. Im Juni 2019 dirigierte er in Amsterdam das erste seiner weltweiten Abschiedskonzerte.
Dazwischen liegt viel musikdramatischer Lexikon-Stoff: immer mehrjährige Phasen, denn Haitink liebte es, im Team zu arbeiten, so mit dem London Philharmonic Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra, der Staatskapelle Dresden, dem London Symphony Orchestra, dem Chicago Symphony Orchestra samt regelmäßiger Dirigate in Wien und Paris sowie als Ehrendirigent der Berliner Philharmoniker. 1987 folgen fünf Jahre als Musikdirektor der Royal Opera Covent Garden. Haitinks Sinn für dramatische Mahler-Interpretationen führte dazu, dass das hochrenommierte Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ihn zu einer Gesamtaufnahme von Wagners „Ring“ nach München holte, ergänzt durch viele andere Einspielungen. Insgesamt ist seine Weltkarriere durch eine wahre Fülle an Aufnahmen und Mitschnitten dokumentiert. Er selbst schätzte im Interview den Wechsel zwischen Podium und Graben: Oben reizte ihn, mit zweitausend Augenpaaren im Rücken, diese „einsam-gemeinsame“ Verantwortung von ihm und Orchester, im Moment des Musizierens die Komposition zu verwirklichen; unten liebte er im Zusammenwirken von ihm, Orchester, Solisten und Bühne das Entstehen von emotionaler Dramatik, die es sonst nirgendwo zu erleben gab.
60 Jahre Routine?
Um Haitink war kein Glitter & Glamour, dafür aber der Atem für den großen Bogen und frisch wirkende Authentizität: Er dirigierte nie aus seinen alten Partituren, sondern kaufte bei der Wiederbegegnung mit einem Werk eine neue Taschenbuch-Ausgabe und suchte mit jedem neuen Orchester im anderen Saal eine Interpretation abseits der Routine. So wurde er als stilsicherer Interpret des großen klassischen Repertoires geschätzt, das von Mozart und Beethoven bis zu Strauss reichte. Doch er griff auch zurück auf Haydn, dirigierte andererseits den Zeitgenossen Turnage und las ständig neue Partituren. Ihn freute, „Parsifal“ dirigiert – und er bedauerte, „Tristan“ „versäumt“ zu haben.
Einem nicht öffentlich breitgetretenen Privatleben – immerhin vier Ehen – entsprach eine skandalfreie Karriere von fast 60 Jahren. Mit feinem Lächeln sagte er einem Kritiker der New York Times „Auch Dirigenten haben ihr Verfallsdatum“ – und zog sich mit einer fast weltweit gespannten Kette von Abschiedskonzerten 2019 vom Podium zurück. Nun ist er von seinem Londoner Zuhause aus in den Musikolymp aufgestiegen.