von Dr. Michael Demel

Vor dem verschlossenen Zuschauerraum des Staatstheaters Darmstadt haben sich die Premierenbesucher eingefunden und warten auf Einlass. Die Anfangszeit der angekündigten Aufführung ist bereits verstrichen und eine Mischung aus gespannter Erwartung und Ratlosigkeit ist auf den Gesichtern der Gäste zu lesen. Da ertönt aus dem Foyer von ferne der Gesang von hohen Stimmen. Er wird lauter, und es nähert sich den Wartenden eine kleine Prozession von vier Sängerinnen des hauseigenen Kinderchores. Nun sind auch die Worte zu verstehen: „Shout, shout, up with your song! Cry with the wind for the dawn is breaking! March, march, swing you along! Wide blows our banner and hope is ­waking.“ Es ist der „March of the Women“, eine Hymne der Frauen­bewegung, welche die Komponistin Ethel Smyth im Jahr 1910 nach einem Volkslied aus den Abruzzen komponiert und auch selbst mit einem kämpferischen Text versehen hat. Die Sängerinnen tragen eine Büste der Komponistin feierlich vor sich her, die schließlich auf einem Sockel vor dem Eingang des Zuschauerraums postiert wird. Mit dieser Eröffnungsaktion ehrt das Produktionsteam eine schillernde Persönlichkeit.

Eine Kämpfernatur

Die einschlägigen Nachschlagewerke kennen Ethel Smyth auch als Schriftstellerin, Journalistin und Frauenrechtlerin. Seit einigen Jahren hat zudem die LGBTQIA+-Bewegung sie als eine der ihren entdeckt. Vor allem aber war sie eine zu Lebzeiten weit über ihr Geburtsland Großbritannien hinaus geachtete Musikerin.

Ethel Smyth, Kreidezeichnung von 1901 (John Singer Sargent, National Portrait Gallery London) (Wikimedia Commons)

Am 23. April 1858 kam sie als viertes von acht Kindern eines britischen Offiziers zur Welt. Ein Musikstudium am Konservatorium in Leipzig erkämpfte sie sich im Alter von 19 Jahren gegen den entschiedenen Widerstand ihres Vaters. Dort kam sie in Kontakt mit wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens, darunter Clara Schumann, ­Edvard Grieg und Johannes Brahms. Der Brahms-Epigone Heinrich von Herzogenberg wurde in Leipzig ihr wichtigster Lehrer. Zu seiner Frau Elisabeth entwickelte sie ein Liebesverhältnis. Bis 1887 schrieb sie ausschließlich Kammermusik. Kein geringerer als Pjotr I. ­Tschaikowski gab ihr schließlich den Impuls, sich der Komposition von Orchesterwerken zuzuwenden. Einen ersten öffentlichen Erfolg erlebte sie 1893 mit der Uraufführung ihrer „Messe in D“ in der Londoner Royal Albert Hall. In den folgenden Jahren wandte sie sich dem Musiktheater zu. Damit ihre Opern überhaupt zur Aufführung gelangen konnten, musste sie zeit- und kraftraubende Reisen unternehmen, um mit ihrer Hartnäckigkeit einflussreiche Persönlichkeiten von ihren Werken zu überzeugen. Bedeutende Fürsprecher hatte sie in den Dirigenten Bruno Walter und ­Thomas ­Beecham. Einer größeren Verbreitung standen aber insbesondere zeitbedingte Vorurteile gegenüber einer komponierenden Frau entgegen. So ist von ­Hermann Levy, dem ­Bayreuther Uraufführungsdirigenten von Wagners „Parsifal“, die Bemerkung überliefert „Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau so etwas geschrieben hat“, woraufhin die Komponistin ­erwiderte: „Nein, und mehr noch: Sie werden es auch in einer ­Woche noch nicht glauben.“

Trotz ihres Kampfes um Anerkennung als eigenständige Künstlerin in einer männerdominierten Gesellschaft hielt sie lange Abstand zu der gerade in Großbritannien erstarkenden Frauenbewegung. Erst im Alter von 52 Jahren wurde sie Mitglied der „Women’s Social and Political Union“ und schloss sich als Suffragette dem Kampf um das Frauenwahlrecht an. Für ihre Beteiligung an einer Protestaktion, bei welcher am 12. März 1912 rund um die Londoner Oxford Street zahlreiche Fensterscheiben eingeschlagen worden waren, musste sie eine Gefängnisstrafe verbüßen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ethel Smyth einer größeren Öffentlichkeit als Autorin erfolgreicher autobiografischer Schriften bekannt, was auch ihrer Anerkennung als Komponistin förderlich war. So erfuhr sie in den 1920er Jahren späte Achtung mit der Verleihung mehrerer Ehrendoktorwürden und der Ernennung zu einer „Dame Commander“ des „Order of the British Empire“. Bei der Uraufführung ihres letzten großen Werkes, der Chorsymphonie „The Prison“ im Jahr 1930, war sie bereits vollständig ertaubt. Danach widmete sie sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1944 nur noch ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin.

Starke Musik und rätselhafte Bilder

Zu dieser letzten großen Komposition hat sich das Darmstädter Produktionsteam um Regisseurin ­Franziska ­Angerer nun an einer szenischen Belebung versucht. Das ist heikel, denn das etwa einstündige Werk enthält keine äußere Handlung. Ein namenloser Gefangener sitzt in seiner Zelle und wartet auf seine Hinrichtung. Er reflektiert seine Situation und tritt in ein Zwiegespräch mit seiner Seele über die menschliche Existenz, die Vergänglichkeit und den Übergang in ein ewiges Leben ein. Die Musik dazu bleibt der spätromantischen Tradition verhaftet und ist von herber Schönheit. In Chorpassagen und einem einmontierten Choralvorspiel erkennt man die Leipziger Tradition von Bach bis Mendelssohn, mit impressionistischer Instrumentationskunst werden daneben stimmungsvolle Naturbilder heraufbeschworen. Die Verwendung von zwei altgriechischen Modalmelodien sorgt für einen Moment von Archaik. Das Staatsorchester Darmstadt entfaltet die abwechslungsreiche Partitur unter der Leitung von Johannes Zahn mit großer Sorgfalt und bringt ihr breites Spektrum an Klangfarben gut zur Geltung.

Georg Festl als Prisoner (Foto Eike Walkenhorst)

Szenisch stehen zunächst die Orchestermusiker auf der Hauptbühne im Mittelpunkt der Aufführung. Der Zuschauerraum hinter ihnen bleibt leer. Die Besucherplätze wurden auf der Hinterbühne errichtet. Zwischen Orchester und Publikum sitzt Georg Festl und knüpft ohne Unterlass Fäden zusammen, schon Minuten bevor die Musik mit einem Orgelpunkt auf dem tiefen C einsetzt. Dazu erhebt er dann mit kernigem Bassbariton und klarer Diktion die Stimme, um vom Zerrinnen seines Lebens und der Sehnsucht nach Freiheit zu singen. Von Ferne antwortet mit hellem Sopran Jana ­Baumeister als die Stimme seiner Seele, dann auch ein Chor, der den Übergang in die Unsterblichkeit verheißt. Das ist in der szenischen Konzentration und der Nutzung des Raumklanges ein starker Beginn, nicht zuletzt wegen der enormen Bühnenpräsenz von Georg Festl. Die Musik entfaltet auf diese Weise schnell eine große Sogkraft.

Der Fokus verschiebt sich im Laufe der Aufführung aber immer stärker zugunsten rätselhafter Bühnenaktionen und schemenhafter Projektionen auf einem semitransparenten Zwischenvorhang. So entfalten Bühnenarbeiter gewaltige rote Stoffbahnen, die im Schnürboden aufgehängt werden, bis herunter zur Bühne reichen, mit Knoten versehen werden und allmählich ein immer dichteres Netz bilden. Das hat als abstraktes Kunstwerk durchaus einen ästhetischen Reiz. Den Sinn dahinter erschließt jedoch erst die Lektüre des Programmhefts. Dort gibt es zunächst allgemeine Hinweise auf ein „Verflochtensein“ der modernen Welt, neuronale und soziale Netzwerke. Genannt werden bildende Künstler als Referenzpunkte für Rauminstallationen zur Visualisierung von Vernetzungen, aber auch von „dreidimensionaler Lyrik“ in Anknüpfung an eine präkolumbianische Knotenschrift. Schließlich wird auch ein Bezug zum Feminismus der Komponistin hergestellt mit dem Verweis auf das Weben als „weibliche Kulturpraxis“. Reichlich verkopft, das Ganze. Auch dass die Zuschauer ornithologisch so versiert sind, den immer wieder als Videoprojektion auftauchenden Umriss eines Vogels konkret einem Uhu zuzuordnen und dann auch noch über das Wissen verfügen, dass es sich dabei um den mythologischen „Trauer- und Totenvogel“ der Antike handelt, dürfte reines Wunschdenken des Produktionsteams sein.

Um im zentralen Bild der Aufführung zu bleiben: Die Verknüpfung der unterschiedlichen Stränge von Symphonie und Live-Installation misslingt. Auch der Versuch, dem zugrundeliegenden metaphysischen Text von Henry Bennet Brewster einen szenisch plausiblen Bezug zum politischen Engagement der Komponistin oder zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen abzugewinnen, ist nicht geglückt. Der starke musikalische Eindruck aber, den dieser Abend hinterlässt, macht neugierig auf die genuinen Bühnenwerke von Ethel Smyth.

„The Prison“ (1930)
Symphony for Soprano and Bass-­Baritone Soli, Chorus and Orchestra von Ethel Smyth
Weiterer Termin: 13. Juli
www.staatstheater-darmstadt.de

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2023

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