von Florian Maier

„I’m a Bastard!“ – „You are the Queen.“ Zwei Sätze, und die ganze unauslöschliche, tragische Dualität im Leben der englischen Tudor-Königin Elizabeth I (1533-1603) ist skizziert.

„Vil bastarda!“ Zwei Worte, und Donizettis Maria ­Stuarda hat ihr Leben binnen Sekunden endgültig verwirkt. Ein Königinnenduell, das zensiert wird, dann doch Musikgeschichte schreibt – und jetzt für den Titel eines zweiteiligen Belcanto-Spektakels am Brüsseler Opernhaus La Monnaie/De Munt Pate steht.

Es ist ein ungewöhnliches Experiment, das Intendant ­Peter de Caluwe da auf den Spielplan seines Hauses gesetzt hat. Vier Tudor-Opern hat Gaetano ­Donizetti seinerzeit komponiert: „Anna Bolena“ (1830), „Maria ­Stuarda“ (1834/35), „Roberto Devereux“ (1837) und das selten gespielte „Elisabetta al castello di Kenilworth“ (1829). Alle handeln sie von der englischen „Virgin Queen“ oder deren Wurzeln, alle stehen sie für sich. So etwas wie einen Zyklus hatte der oft als „Fließband-Komponist“ abgetane Donizetti nie im Sinn. Und doch lässt sich der Reiz des in Brüssel realisierten Gedankens nicht von der Hand weisen: Vier Tudor-Opern, eine ­Königin – warum nicht ein Psychogramm der englischen Herrscherin daraus destillieren?

„An existential tale in two evenings“

Und was für eines! In Olivier Fredj (künstlerisches Konzept, Skript, Regie) und Francesco Lanzillotta (Dirigat, musikalische Arrangements) hat de Caluwe genau die richtigen kreativen Köpfe für „Bastarda“ gefunden. „Pasticcio“ wäre ein grundlegend falscher Begriff für das, was die beiden über zwei Abende und knapp fünfeinhalb Stunden reine Spielzeit im Brüsseler Opernhaus entfalten. Da werden Nummern aus den vier Ursprungswerken nicht nur nach dem Bastelprinzip zu einer Collage kombiniert – da entsteht ein Gesamtkunstwerk, dessen Einzelteile sich gar nicht mehr wie Einzelteile anfühlen, so, als sollte es immer schon so sein. Arien, Duette, Ensembles, Chöre gehen ineinander über, die eine Oper spiegelt sich in der anderen, Solisten singen Ausschnitte, die nie für ihre Partien gedacht waren. Neu geschaffene musikalische Brücken gliedern sich nahtlos ein, dezente zeitgenössische Zwischentöne spitzen emotional zu, die „heilige Trennung“ zwischen Musik und gesprochenem Wort spielt kaum eine Rolle, denn dramatische Stringenz geht vor Belcanto-Kult. Bei alledem ist Donizetti der Anker des Projekts, aber nicht der alleinige Navigator: Regisseur und Autor Fredj bettet die italienische Oper des frühen 19. Jahrhunderts in ein englisches „Drehbuch“ auf der Höhe der Zeit: elisabethanisch, zeitlos, modern.

„An existential tale in two evenings“ nennt sich das Ergebnis, „The Rise and Fall of Elizabeth I“. Ein musika­lisches Biopic, chronologisch erzählt von der Wiege bis zur Bahre und ganz nah dran am Menschen hinter der Krone. Britische Period Dramas von „Downton ­Abbey“ bis „The Crown“ haben in der TV- und Streaming-Landschaft immer Hochkonjunktur – warum sollte es im Theater anders sein? Und so bietet auch „Bastarda“ Eska­pismus erster Güte: weit genug entfernt vom persönlichen Erfahrungshorizont, um mit Glanz und Elend der High Society ein paar Stunden dem Alltag entfliehen zu können.

Elizabeth I mit ihrer so ureigenen Biografie bietet dafür mehr als genug Kreativfutter: Ihr triebgesteuerter Vater Henry VIII provoziert 1534 eine Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche, um trotz bestehender Ehe eine offizielle Verbindung mit ihrer Mutter Anne Boleyn eingehen zu können, überlässt diese dann aber doch mehr als bereitwillig dem Schafott, als Elizabeth noch nicht einmal drei Jahre alt ist (Akt zwei von sechs seiner Ehedramen, die mit dem Merkspruch „­Divorced, ­Beheaded, Died, Divorced, Beheaded, Survived“ der Nachwelt noch heute präsent sind). Knapp zehn Jahre später stirbt der Vater, ihr Halbbruder ­Edward VI als dessen einziger legitimer Sohn lebt nicht viel länger, Halbschwester Mary I („Bloody Mary“) ebenso wenig. Plötzlich steht ein illegitimer „Bastard“ ganz oben in der Thronfolge und begründet eine neue Ära, das „­Elisabethanische Zeit­alter“. „Gloriana“ bewahrt ­England in fast 45 Regierungsjahren vor den Glaubenskriegen der Epoche, begründet den Aufstieg ihres Reichs zur Weltmacht und neuer künstlerischer Blüte, taktiert mit ihren weiblichen Reizen zur Sicherung des Friedens und bleibt letztendlich unverheiratet, um ihre Macht nicht mit einem Mann teilen zu müssen.

Schlammschlacht in Adelskreisen: das Königinnenduell ­zwischen Maria Stuarda (Lenneke Ruiten) und der englischen Queen ­(Francesca Sassu) (im Hintergrund Nehir Hasret als inneres Kind) (Foto Bernd Uhlig)

Prachtvoll, spritzig, intim

All das verpackt Olivier Fredj in Brüssel in zwei intime und doch bildmächtige, seelisch überragende ­Abende: „For better, for worse …“ erzählt von Herkunft und Aufstieg der jungen Königin bis zur finalen Konfrontation mit ihrer Cousine und Rivalin Mary Stuart, „… till ­death do us part“ von zunehmender Verbitterung und innerer Abkapslung in den späteren Lebensjahren. Regentschaft fordert ihren Tribut, und dieser besteht in ­Elizabeths Fall in Einsamkeit. Spannend, wie Fredj und sein Regieteam das im Galopp durch die Jahre und Jahrzehnte illustrieren. Unstillbare Sehnsucht nach ihren „Favoriten“ begehrt gegen das selbstauferlegte Dogma der „Virgin Queen“ auf und verkümmert daran letztlich jämmerlich, schneidender Ingrimm und Kälte brechen sich zunehmend Bahn, Paranoia hält Einzug in Musik, Mimik und Gestik, selbst die Kostümgestaltung. Handgemachte, pure Theaterkunst ist das, immer den roten Faden und die Formel „Psychologische Tiefenschärfe vor effektvollem Belcanto“ im Blick.

Das bedeutet nicht, dass Donizetti damit nicht zu seinem Recht käme. Aber seine Musik ordnet sich ein in ein gleichberechtigtes Kollektiv der Künste, die sich gegenseitig in die Hand spielen und einen in dieser Qualität selten zu erlebenden runden Gesamteindruck hinterlassen. Da ist etwa das von Avshalom Pollak choreografierte spritzige Ballett, in dem die Tänzer wie überdrehte Duracell-­Häschen als völlig überzeichnete Volksmenge durch die Szenen ruckeln und zuckeln, dass es eine wahre Freude ist – verkrustete Aristokratie einmal anders. Da sind Sarah Derendingers Video-Seelenmalereien, welche die Epoche bewusst brechen und den schönen Schein der königlichen Fassade sezieren (eindrucksvoll etwa Elizabeths kalt-poetischer „Totentanz“). Da sind Urs Schönebaums funktional-schlichte, die gesamte Bühnenhöhe füllende schwarze Säulen und Petra ­Reinhardts prachtvoller, historisch akkurater Kostümpomp, dessen Liebe zum Detail man nur bewundern kann. Und natürlich die Inszenierung von Olivier Fredj, der ­Elizabeths Lebensuhr unweigerlich Jahr um Jahr ticken lässt. Er bespielt nicht nur lustvoll Bühne und Königslogen, er durchbricht auch die vierte Wand und schlägt eine würdevoll-ergreifende Brücke, wenn die Zuschauer kurz nach Beginn des ersten Abends im Stehen der Krönungszeremonie der jungen Elizabeth beiwohnen und ganz am Ende von Teil zwei in derselben Haltung die sterbende Königin dem Tode überantworten.

„For better, for worse …“ wirkt vielleicht stellenweise etwas rastlos und erfordert mehr Durchhaltevermögen, besticht aber durch eine erzählerische Simultantechnik, welche Elizabeths Schicksal mit dem ihrer Mutter Anne Boleyn übereinanderlegt. Die Momente in „… till death do us part“ können sich dafür besser entfalten, finden zu einer eigenen inneren Ruhe und auch augenfälligeren Optik. Für beide Teile von „Bastarda“ gilt: In keinem Moment spielt sich hier fades Steh-Kostümtheater ab.

God Save the Queen!

Das ist zu einem ganz großen Teil auch einer erst 12-Jährigen (!) zu verdanken: Nehir Hasret in der Rolle des inneren, ewigen Kinds. Mit einer unwahrschein­lichen Grandezza behauptet sie die Bühne für sich, wie selbstverständlich zeigt sie mehr schauspielerische Facetten als 90 Prozent der heutigen Solisten-Landschaft. Eine getriebene, rastlose, einsame Elizabeth ist das, voller unerfüllbarer Träume, verzweifeltem Unverständnis, aggressiver Selbstbehauptung. Immer, wenn das sehr hohe Erregungslevel szenisch in die Monotonie zu kippen droht, weiß Hasret mit neuen emotionalen Farben zu überraschen, ergibt sich dem Wahnsinn, der kleinkindlichen Isolation, der naiven Lebensfreude.

Im Sterben bröckelt die Fassade: Elizabeth (Francesca Sassu) sucht Halt bei den omnipräsenten Schatten ihrer Eltern (Salome Jicia und Luca Tittoto) (Foto Bernd Uhlig)

Diesem personifizierten Innenleben steht eine äußere, erwachsene Elizabeth gegenüber. Aufgrund einer Erkrankung von Myrtò Papatanasiu übernimmt die alternierend eingeplante Francesca Sassu kurzfristig die beiden Premierenabende. Ihr Sopran braucht etwas Anlauf, schwingt sich mit zunehmender Dramatik aber zu einem kraftvoll-zarten Porträt der staatstragenden Repräsentationsfigur auf. Berührend-intim die Final­szene von „Bastarda II“, in der „Roberto Devereux“, „Anna Bolena“ und „Maria Stuarda“ kulminieren und ein fast utopisches Bild von Erlösung in Aussicht stellen.

Folgerichtig in der zweiten Reihe steht das übrige Ensemble, dessen Partien so zugeschnitten wurden, dass sie Elizabeths Charakterstudie perfekt in die Hände spielen. Salome Jicia erhält mit Anna Bolenas „Al dolce ­guidami“ das Leitmotiv der Produktion: das Wiegenlied einer Mutter, die ihr Kind mit nicht einmal drei Jahren für immer verlassen muss – eine Wunde, die niemals verheilt. Jicia verleiht dieser geisterhaften Wiedergängerin emotionales Gewicht, Luca Tittoto als ­blasiertes Scheusal Enrico (Henry VIII) führt die Königswürde im krassen Gegenentwurf ad absurdum. Über dem von Giulio Magnanini fabelhaft einstudierten Chor des Hauses schwebt mit ätherischem Schwermut die hochmütig strahlende ­Maria Stuarda von Lenneke Ruiten. ­Belcanto in Reinkultur liefert Enea ­Scalas Leicester: ein Proto­typ des schmachtend Leidenden, den auch Sergey ­Romanovskys Roberto Devereux in der „Favoriten“-­Erbfolge mit dunkel grundiertem Tenor aufzugreifen weiß. Raffaella ­Lupinacci (­Giovanna ­Seymour und Sara) und Valentina ­Mastrangelo (Amy ­Robsart) geraten lyrisch innig in die politischen Tretmühlen. Und die Partien von ­Smeton (David ­Hansen), ­Cecil (Gavan Ring) und ­Nottingham (­Bruno Taddia) führen als „Philosophy/Emotion“, „History/Reason“ und „Theatre/­Love“ in stilechtem Britisch als Erzähler durch die Geschichte, wenn Hansen seine Mezzoarie auch leider allzu schrill abfeuert.

Bleibt das Orchestre symphonique de la Monnaie, das unter Leitung von Francesco Lanzillotta eine majestätische Leistung erbringt: differenziert, ausbalanciert, mal pompös, dann wieder mit psychologischer Trennschärfe – und immer Donizettis feine Instrumentationskunst im Blick. Ein raumfüllender Klang, der diesen Höhepunkt der laufenden Spielzeit auch in musikalischer Hinsicht abrundet. Denn dass wundervoller Belcanto im kreativen Steinbruch durchaus das Zeug hat zu ganz großem Musiktheater, wird mit dieser ­Doppelpremiere in ­Brüssel mehr als deutlich. Es ist zu hoffen, dass „­Bastarda“ weiterlizensiert wird und nicht im Archiv verstaubt. Alles andere wäre eine Schande.

„Bastarda“ ist ab dem 28. Mai 2023 europaweit ein Jahr lang auf arte.tv/opera abrufbar.

EMPFEHLUNG

Thomas Kielinger:
„Die Königin – Elisabeth I. und der Kampf um England“
375 Seiten, C.H.Beck

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2023

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