von Dr. Thomas von Steinaecker

Ein Gespenst geht um in den Radiosendern Deutschlands. Es heißt: der Hörer. Er ist der vorgebliche Grund, warum in den letzten Jahren in allen neun Sendern der ARD grundsätzliche Reformen angestoßen wurden, die sich momentan in unterschiedlichen Stadien der Umsetzung befinden. Aktuell sorgt die Ankündigung des Bayerischen Rundfunks einer „echten Kulturoffensive“ im Radioprogramm Bayern 2 für Aufregung, hinter der viele das genaue Gegenteil, nämlich einen „Kahlschlag“ befürchten. Keine unbegründete Sorge, betrachtet man die lange Liste von Sendungen, die ersatzlos gestrichen werden sollen: von „Diwan, das Büchermagazin“ über „Kinokultur“ bis hin zum „Kulturjournal – Kritik. Dialog. Essay“. Bemerkenswerterweise ist es bei all diesen Umstrukturierungen immer die Kultur, die den härtesten Kürzungen unterzogen wird – ob nun beim HR, WDR oder eben jüngst beim BR. Im Jargon des dortigen Kulturdirektors, Björn Wilhelm, heißt es, man wolle „noch mehr Hörerinnen und Hörer“ gewinnen, sprich: Bisher waren es ihm zu wenige. Und angesichts der Streichungen scheint das Vertrauen eines Kulturdirektors in das öffentliche Interesse an Lesungen, Kulturkritik und ­Essays, die länger als die magische Häppchenzeit von drei Minuten dreißig dauern, auch verschwindend gering zu sein. Wie aber nur erreicht man den Hörer? Wie begeistert man ihn für mehr Kultur im Radio? Was will er? Wie sieht er aus? Ja, wer ist er überhaupt? Nur so viel scheint für Intendanten und Direktoren klar: Man muss ihm mehr entgegenkommen. Der zauberwortartige Begriff, der dann regelmäßig in diesem Zusammenhang in Programmplanungen fällt, lautet „niedrigschwellig“. Woher jedoch kommt eigentlich dieses auffallende Unbehagen an der Kultur? Und woher die Vorstellung, es einem Hörer recht und immer noch rechter zu machen?

Damals: Die kulturell vielfältigste ­Radiolandschaft der Welt

Wirft man einen Blick zurück, auf die 1950er Jahre, die Anfangszeit des heutigen Radios, das in einer Epoche ohne Fernsehen noch Leitmedium war, stellt sich rasch ein Eindruck ein, für den der Begriff „elitär“ noch fast zu schwach erscheint. Der exzentrische Arno Schmidt zeigte sich in Stundensendungen begeistert von obskuren Barockdichtern und in „Radio-Essays“ baten die damaligen Redakteure, die Alfred Andersch, Hans ­Magnus Enzensberger und Helmut Heißenbüttel hießen, Kolleginnen und Kollegen wie Ingeborg Bachmann oder Heinrich Böll in „Sprachlaboratorien“ über „geistige Probleme“ nachzudenken. Das „Abendstudio“ des ­Hessischen Rundfunks hatte das stolze Motto „Zumutung höchster Ansprüche“ und der NWDR leistete es sich, ein teures elektronisches Studio mit den modernsten Apparaten auszustatten sowie Karlheinz ­Stockhausen für Avantgarde-­Kompositionen ein ordentliches monatliches Salär zu zahlen. Nicht selten zog das Reaktionen nach sich wie nach der Ursendung eines der wichtigsten und immer noch schönsten Hörspiele der Geschichte, Günter Eichs „Träume“, das auf eine damals, 1951, unerhört experimentelle Weise akustisch surreale Welten entstehen ließ. Man solle doch diesen Eich bitte einsperren, so ein Hörer. Und wo man schon dabei sei: dieser Stockhausen (dessen Mutter von den Nazis euthanasiert wurde), der gehöre „vergast“. Die Redaktionen hielten trotz dieser prädigitalen Shitstorms an ihren Künstlern fest, ja, fast hat man den Eindruck, man verstand diese Empörung sogar als eine Art Gütesiegel.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Radiolandschaft hierzulande in den 1950er Jahren nicht nur die kulturell anspruchsvollste und vielfältigste in Europa, sondern auf der Welt war. Deutschland wurde damals zu einem international einzigartigen Radioland. Das erklärt sich vor allem aus der historisch einmaligen Situation. Nach dem Krieg und der behaupteten Stunde Null beschloss die westliche Welt, die besiegte Nation einer kompletten geistigen Erneuerung zu unterziehen. Alle sozialen Schichten sollten erreicht und die Ideologien des Dritten Reichs aus den Köpfen vertrieben werden. Die Siegermächte, vor allem die USA, investierten Unsummen in das, was sie „Reeducation“ nannten. War doch klar: Es ging um nichts weniger als die Um- oder Neu-Erziehung eines ganzen Volkes, bei der der Verbreitung von Kultur eine essentielle Rolle zufiel. Ja, Kultur, auch und insbesondere solche, die Widerstände hervorrief, das war nach den Jahren der totalitären Ideologie und dem damit verbundenen Populismus ein Mittel zur Ausbildung kritischen Denkens und der Demokratie.

Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass dieses analysierende Argumentieren, das so etwas wie das kühle Herz dieser Sendungen ausmacht, oft mit schwer verdaulicher Trockenheit einherging. Und ja: Das alles war, eben zeittypisch, eine ziemlich misogyne Männerwirtschaft, die sich nicht selten durch Selbstgefälligkeit und Klüngelei auszeichnete. Und sicher: An manchen Stellen lief dieses Projekt der Aufklärung Gefahr, zu einem exklusiven Club der Besserwisser zu werden. Von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit war man ohnehin noch entfernt. Trotzdem: Dieser unschöne Begleitakkord kann nicht den Kern dessen verdecken, was Kultur in der Gründungszeit der Bundes­republik und seines Radios ausmachte und sich aus heutiger Sicht mit Begriffen belegen ließe, die aktuell bei Programmmachern mindestens ein Stirnrunzeln hervorrufen würden. Darunter vor allem die Nummer eins auf einer Shitlist des Uncoolen: „intellektuell“. Intellektuell? Kanon? Bildung? Das Radio als kulturelle Anstalt zur Erziehung des Menschengeschlechts? Echt jetzt? Kann schon sein, dass manch einem da ein „Ist mir zu deep, Digga!“ auf der Zunge liegt.

Heute: Emotion sticht Analyse

Björn Wilhelm, vorher Programmchef des NDR-Fernsehens, seit März 2022 Programmdirektor Kultur des Bayrischen Rundfunks (Foto BR/Markus Konvalin)

Schaut man auf den aktuellen Zustand des Radios, stechen jedenfalls die Unterschiede umso deutlicher ins Auge. Wenn sich die Sender in Zukunft etwa bei Literaturkritiken aus einem einzigen, für die gesamte ARD errichteten „Regal“ bedienen sollen, wird im Großen an jenem Gefüge gerüttelt, das die Einzigartigkeit der Radiolandschaft hierzulande ausgemacht hat: die Vielfalt der Stimmen und Ansichten. Im Kleinen, in den Beiträgen selbst, gilt das Gebot der Stunde: Emotion sticht Analyse. Ich habe da ganz viel gespürt! Und was macht das jetzt mit Dir? Wir, die wir mit unseren Rundfunkbeiträgen die Programme ermöglichen, sollen doch bitte selbst bestimmen, was wir hören wollen. Im aktuellen Positionspapier des BR, die Antwort auf die breite öffentliche Kritik an der geplanten Reform des Kulturprogramms Bayern 2, heißt es etwa, dass „ganz neue Formate geplant seien“ und „traditionelle Literatur­kritiken ersetzt“ würden durch Sendungen, in denen Hörer ihre Lieblingsbücher empfehlen. Ein ziemlich altes Format, nebenbei bemerkt, das bereits seit Jahren im „Tagesgespräch“ auf Bayern 2 vor den Sommerferien und vor Weihnachten gepflegt wird. Und was mag der Hörer so? Oder besser: der Hörer aus der Gruppe der legendenumwoben ominösen und von allen Seiten auf anbiedernde Weise umworbenen postmateriellen und neoökologischen Millennials, die wohlgemerkt letztlich gegenüber den sogenannten Boomern den weitaus geringeren Teil der Hörer ausmachen? „Zumutung höchster Ansprüche“? Nein, gerade diesem Hörer einer jüngeren Generation darf offenbar nur wenig zugemutet werden. Er scheint nicht sonderlich intelligent, gebildet oder sonst irgendetwas, eigentlich sogar ziemlich faul, schwer von Begriff, ja, höhlenmenschartig, vor allem interessiert an Essen, Schlafen und Sex. Er hat Angst vor Ansprüchen. Eventuell existiert er gar nicht.

Aber vielleicht existiert er ja doch – in naher Zukunft. Die Kulturprogramme des Radios sind dabei, genau jenen Wunsch- oder besser Albtraumhörer Wirklichkeit werden zu lassen, der als selbst erschaffener Geist nun seit Jahren durch ihre Köpfe spukt. Dahinter offenbart sich eine paradoxe Unlust der Programmverantwortlichen am Radiomachen und eine Totalverweigerung gegenüber jenem Kultur- und Bildungsauftrag, den der Rundfunkstaatsvertrag vorschreibt und der eine Finanzierung durch Gebühren rechtfertigt, in Abgrenzung zu den durch Werbeeinnahmen finanzierten privaten Sendern. Aber wen juckt schon so ein Vertrag? Bildung, wozu? Am Kipppunkt in der Entwicklung eines trotz Fernsehens und Internet immer noch maßgeblichen Mediums kann es aber durchaus sinnvoll sein, auf seine Geschichte zu blicken. Es geht hier nicht nur um die mutwillig herbeigeführte Zerstörung des kulturellen Erbes dieses Landes, das über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde. Es geht um viel Grundsätzlicheres und Gefährlicheres: Ohne Not wird hier Abschied genommen von der Idee, dass Komplexes, Herausforderndes, Nicht-sofort-Verständliches, Intellektuelles, ja Abseitiges notwendig für die geistige Entwicklung einer Gesellschaft ist – und dass ein Land, in dem dafür kaum noch Platz ist, auf jenen Punkt einer populistischen Katastrophe zusteuert, aus deren Trümmern das öffentlich-rechtliche Radio als Medium der Demokratisierung in den 1950ern seinen Ausgang nahm. Es fehlt nicht mehr viel. Und was macht das mit Dir?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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