von Florian Maier

Theater und Digitalität: für die einen nur schwer vereinbar, für die anderen kreatives Neuland. Und vielleicht gerade deshalb das Thema, das durch die Pandemie – das vielzitierte Brennglas – so sehr in den Fokus künstlerischer Diskurse gerückt wurde wie kaum ein anderes. Die Meinungen zur Nutzung moderner Technologien auf der Bühne gingen vor Corona weit auseinander: Muss ausgerechnet das Theater als analoger Fluchtraum auch noch mit omnipräsentem „Technik-Schnickschnack“ überflutet werden? Können unsere Bühnen weiterhin interessant, zeitgemäß, „in“ sein, wenn sie nicht auf diesen Zug aufspringen? Und falls sie Ambitionen haben, sind dann überhaupt die personellen und finanziellen Ressourcen für einen professionellen Auftritt vorhanden?

Die Ausgangslage könnte von Haus zu Haus nicht unterschiedlicher sein: Manche experimentieren schon seit Jahren mit neuen digitalen Ästhetiken, andere suchten im Lockdown verlegen nach einer schnell verfügbaren und unkomplizierten Lösung, abgefilmte Inhalte aus dem Archiv kurz vor knapp in den Ring zu werfen. „Heute ist morgen schon gestern“ – zugegebenermaßen eine Binsenweisheit, aber nichtsdestotrotz auch ein passendes Bild für die (deutschsprachige) Theaterlandschaft anno 2021: ein unübersichtlicher Dschungel aus progressiver Innovation, vorsichtiger (Schein-)Erneuerung und bewusstem Desinteresse. Was läge da näher als ein offener Austausch, eine Konferenz zu den Chancen und Risiken technischer Impulse für unsere Bühnen: das „1. Forum für Theater und digitale Transformation“, zu dem Anfang November das Staatstheater Augsburg (in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen) einlud.

Der Ort der „hybriden“, also sowohl online wie auch vor Ort stattfindenden Tagung ist nicht zufällig gewählt: Das Augsburger Theater gilt als Trendsetter, der schon vor Corona an einer eigenen digitalen Sparte feilte. Über 500 Virtual-Reality-Brillen werden hier nicht nur im Saal verwendet, sondern auf Wunsch auch deutschland- und österreichweit verliehen, diverse aufgespielte Produktionen inklusive. Tina Lorenz, Projektleiterin für digitale Entwicklung am Haus, gründete im Frühjahr 2021 gemeinsam mit Marcus Lobbes und dessen Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität eine Plattform für Wissensaustausch, Kooperation und gemeinschaftliche Problemlösung: das „theaternetzwerk.digital“, dem derzeit etwa 30 Mitgliedshäuser angehören. Nun also ein erster öffentlicher Erfahrungsaustausch – inhaltlich breit gefächert und mit konträren Positionen besetzt.

Hightech als niederschwelliges Angebot

Den Auftakt macht Gastgeber Augsburg, für den das Künstlerduo Christian Schläffer und Daniel Stock in einer mehrstufigen Entwicklungsphase am „Elektrotheater«, einer „Bühne für das Metaverse“, tüftelt. Ziel ist eine immersive Infrastruktur, also eine virtuelle Umgebung, in der das Publikum mit Künstlerinnen und Künstlern live als Avatare aufeinandertrifft, auch wenn sie in Wahrheit viele Kilometer trennen. Ein Multiplayer Online Game also? Technisch ja, konzeptionell nein, denn den Theatergedanken möchten Schläffer und Stock nicht aus den Augen verlieren. Sie wollen aber auch keinesfalls eine 1:1-Abbildung der Realität abliefern: „Wer den physischen Theaterraum in VR nachbaut, hat es nicht verstanden.“

Wie sollte dann digitales Theater aussehen? Eine Glaubensfrage, auf die es nicht die eine richtige Antwort gibt. Die VR-Philosophie am Staatstheater Augsburg hängt beispielsweise eng mit der Vermietung der zugehörigen Hardware zusammen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor, da private VR-Brillen zwar in Gaming-Haushalten längst nichts Ungewöhnliches mehr sind, „Otto Normalverbraucher“ so etwas aber eher selten zuhause hat. Niedrigschwelligkeit lautet also das Gebot der Stunde und ist umso wichtiger, je mehr man auf das Durchschnittspublikum schielt, das meist nicht aus ­Digital Natives besteht. Kein leichter Spagat für technologisch versierte Theaterschaffende.

Denn die Konkurrenz schläft nicht. Was im Bühnenbetrieb noch in den Kinderschuhen steckt und mit verhältnismäßig überschaubaren Budgets aus dem Boden gestampft wird, ist im Gaming-Sektor oder auch in der Filmindustrie über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich gewachsene Perfektion. Ein Gefälle, das sich nicht einfach wegdiskutieren lässt. Aber sollte man das überhaupt? Theater als pulsierende Orte der Liveness leben doch immer schon vom Charme des Nichtperfekten, von der Magie des Augenblicks.

Digital erzeugter Shakespeare-Kosmos: Einblick in die Arbeit an „Dream – A live, online performance set in a virtual midsummer forest“ (Foto Stuart Martin/Royal Shakespeare Company)

Zauberhafte Bilder und technische Tücken

Diese auch in Zukunft einzufangen, hat sich die ­Royal Shakespeare Company auf die Fahnen geschrieben. ­Sarah Ellis, Director of Digital Development, ist zugeschaltet aus Stratford-upon-Avon. Sie berichtet von zwei prägenden Produktionen: Zum 400. Todestag des englischen Dramatikers 2016 gerät Luftgeist Ariel in „The Tempest“ via Performance Capturing (die Erzeugung einer digitalen Figur auf Basis von Bewegung und Mimik eines lebenden Vorbilds) vielleicht fluider denn je zuvor; inmitten der Pandemie verzaubert das Ensemble mit „Dream – A live, online performance set in a virtual midsummer forest“ über 65.000 Interessierte aus mehr als 90 Ländern. Das Erfolgsgeheimnis? Möglicherweise die sensible Balance zwischen klassischem Theater und digitalem Erlebnis: Der Einsatz von Technologie erfolgt nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck.

Dazu passen auch die weiteren Programmpunkte der Konferenz: Prof. Friedrich Kirschner, Leiter des Master­studiengangs „Spiel und Objekt“ an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, spricht über die Rolle von Kunsthochschulen zur digitalen Transformation und plädiert für geschützte Räume zum Experimentieren. Eine „Fail Show“ sorgt für viel Gelächter, wenn Tagungsteilnehmer aus dem Nähkästchen des ganz normalen Technikwahnsinns plaudern. Die kreativen Köpfe der Augsburger Agentur Heimspiel stehen bei einer Stippvisite im Studio Rede und Antwort zu ihrer Arbeit zwischen Virtual Reality und Animation. Und der Hands-on-Workshop „(un)friendly robots“ mit Prof. ­Andreas Muxel und Elias Naphausen von der ­Hochschule ­Augsburg lässt die Teilnehmer Freundschaft mit dem ­„RoboDadaismus“ schließen.

Ausblicke und Grenzen

Überraschende Einsichten auch am zweiten Konferenztag: Luise Ehrenwerth und Yvonne ­Dicketmüller, Fellows der Akademie für Theater und Digitalität ­Dortmund, forschen zu digitalen Kostümbildern. Beim Stichwort Theater denkt man in der Regel an traditionell handgemachte Kostüme für analoge (menschliche) Körper. Enge Produktionszeiträume, Wasch- und Haltbarkeit oder auch fehlender Austausch zwischen den Gewerken tun ihr Übriges und lassen wenig Raum für Experimente. Ehrenwerth und Dicketmüller wollen das ändern, verweisen auf digitale Körper (Androiden, Cyborgs, Avatare), virtuelle Kostümelemente, leitende Garne, elektrotechnisches Figurentheater, Textilien aus dem 3D-Drucker, ressourcenschonende Modellierung am PC, bevor ein Entwurf tatsächlich genäht wird.

Modellierung am PC: Kostümentwürfe von Luise Ehrenwerth

Vielversprechenden Ansätzen folgt man auch am Zimmertheater Tübingen, für das Dramaturg und Programmierer Ilja Mirsky angereist ist. Das mit 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vielleicht kleinste Stadttheater Deutschlands wurde 2018 zum Institut für theatrale Zukunftsforschung (ITZ) umgewidmet – ein Laboratorium mit Fokus auf gesellschaftspolitische Stückentwicklungen. Das passt perfekt zu der Universitätsstadt, die einen der größten KI-Forschungsstandorte Europas beherbergt. In seiner Keynote gibt Mirsky Einblicke in ein „Stadttheater der Zukunft“: zeitgenössisch, diskursiv, vielstimmig (etwa mit einem theatralen Audiowalk durch die Stadt auf Basis einer GPS-basierten App) – und vor allen Dingen machbar. Denn so zukunftsweisend und faszinierend neuartig technische Innovationen sind, so mangelhaft ist nach wie vor schon allein der mobile Datenempfang insbesondere in ländlichen Regionen. Dass kostspielige technische Basisausstattung fehlt, macht eine digitale Transformation am Theater für viele Häuser zur Unmöglichkeit.

Das Thema löst auch Ängste unter technisch weniger versierten Theaterschaffenden aus: Werde ich mich blamieren? Marcus ­Lobbes, Direktor an der Akademie für Theater und Digitalität, winkt ab. Das von ihm mit Tina Lorenz initiierte „theaternetzwerk.­digital“ will Vorbehalte ausräumen und Strukturen verstetigen: Nach annähernd zwei Jahren „digitalem Notniveau“ im Fahrwasser von ­Corona sei es nun an der Zeit, das große mediale Interesse zu nutzen und wirklich aufregende neue Formen des Theaters zu entwickeln. Die Sterne stehen günstig wie nie und langsam bricht sich auch die Erkenntnis Bahn, dass ein Blick über den Tellerrand der eigenen Theaterblase mehr als lohnt – nicht zuletzt auch wegen ­externer Expertise, die dem Bühnenbetrieb nur guttun kann.

Mitschnitte von ausgewählten Programmpunkten der ­Tagung sind auf dem YouTube-Kanal des Staatstheaters Augsburg verfügbar.

Netzwerk

Lust auf regelmäßigen Austausch und Impulse zu den neuesten Entwicklungen im Bereich der digitalen Bühnen? Die AG Digitalität & Audience Development im dramaturgie-­netzwerk (d-n) freut sich über neue Gesichter. Einige Mitglieder waren auch in Augsburg vor Ort, darunter (v.l.n.r.) Florian Maier (orpheus), Silvia Bauer (freie Dramaturgin), Lea Goebel (Schauspiel Köln), Annika Hertwig (Theater Freiburg), Jascha Fendel (Deutsches Theater Göttingen) und Ilja Mirsky (Zimmertheater Tübingen, nicht im Bild).
Kontakt: dramaturgie[at]ensemble-netzwerk.de

(Foto dramaturgie-netzwerk)

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2022

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