Gleich zwei Preise räumte die 25-jährige Musicaldarstellerin am Münchner ­Gärtnerplatztheater beim diesjährigen MUT-Wettbewerb (für Musikalisches ­UnterhaltungsTheater) ab: den 2. Jury- und den Medienpreis, gestiftet von der „orpheus“-Redaktion. Mit eindringlicher Bühnenpräsenz, gekonntem Einsatz verschiedenster Stimmfarben und einer überzeugenden Körpersprache brachte die Studentin der Essener Folkwang Universität der Künste Jury wie Zuschauer auf ihre Seite. Aktuell sammelt sie in der Dortmunder Produktion des Rockmusicals „Rent“ praktische Bühnenerfahrung, ehe im März 2024 ihr Studienabschluss ansteht. Ein vielversprechendes Talent und bereits jetzt eine spannende Künstlerpersönlichkeit.

Interview Matthias Boll

Total überraschende Frage an die Absolventin der Rudolf-Steiner-Schule: Wie oft sind Sie schon gebeten worden, Ihren Namen zu tanzen?
Das kann ich noch an meinen Fingern abzählen. Das Thema ist leider sehr klischeebehaftet, ich weiß. Aber ja, ich kann meinen Namen tanzen und könnte es auch sofort vorführen.

Sie haben bei der MUT-Gala einen Song aus „Anastasia“ präsentiert, darin heißt es: „Denn mein Traum spricht zu mir: Gib deine Hoffnung nicht auf!“ Können Sie sich mit Anastasia identifizieren?
Ich würde es so interpretieren: Eine junge Frau versucht, nach ihrem Herzen zu leben, nach dem Sinn in diesem Leben zu suchen und sich mutig gegen ihre Ängste durchzusetzen.

Das Künstlerdorf Worpswede, in dem Sie aufgewachsen sind, bezeichnete Paula Modersohn-Becker als „Wunderland“. Schwärmt man mit 16 von Worps­wede oder eher vom Bahnticket nach Bremen?
Worpswede ist wirklich sehr schön grün und schnuckelig, die Museen sind toll und eine Inspiration. Das prägte meinen Bezug zur Kunst. Aber Bremen fand ich mit 16 spannender, erst recht nach dem Abitur.

Was war der Lebensmoment, in dem Sie wussten: Ich muss auf die Bühne.
In der Schule habe ich in „Peer Gynt“ mitgespielt und in „Die Kinder des Monsieur Mathieu“. Ich habe die Freude gespürt, wie es ist, Geschichten zu erzählen und dies in einer Gruppe zu erarbeiten. Das spüre ich bis heute. Das Rampenlicht war nie ausschlaggebend, eher die Neugier darauf, was eine gute Geschichte mit mir macht.

„Mein Traum spricht zu mir“: Antonia Kalinowski im Finale des MUT-Wettbewerbs 2023 (Foto Marie-Laure Briane)

Nicht alle Eltern sind begeistert, wenn das Kind den Wunsch äußert, als Musicaldarsteller sein Geld zu verdienen. Wie hoch flog der Hut im Hause Kalinowski?
Ich habe das große Glück, dass mich meine Eltern immer unterstützt haben. Meine Schwester und ich sollten etwas machen, das ihnen Schmetterlinge im Bauch beschert. Meine Eltern schneiden alles aus, was über mich in der Zeitung steht. Vor dem MUT-Auftritt sagte meine Mutter: „Antonia, wenn es nicht klappt, machen wir uns einfach eine gute Zeit in München.“ Es hat geklappt, das bayerische Frühstück am nächsten Morgen war wunderbar.

Können Sie etwas anfangen mit dem Begriff Ruhm?
Ja, aber ich glaube, ich übersetze ihn für mich anders. Ich bin sehr ehrgeizig und diszipliniert, aber nicht geleitet vom Gedanken, dass ich die Nummer eins sein muss. Ich frage mich eher: Was macht mich aus, was macht mir so viel Freude, dass darin eine Herzensqualität steckt?

Hätte aus Ihnen auch eine Opernsängerin werden können?
Ich finde diese Sparte unfassbar beeindruckend, aber es ist nicht meine Art, mich auszudrücken. Die Erzähl­variationen des Musicals ziehen mich mehr an. Mein erster Musicalbesuch war „König der Löwen“ in ­Hamburg, ich war schwer beeindruckt und bin es geblieben.

Welches Vorurteil über Musicals würden Sie gern hier und jetzt widerlegen?
Ich glaube, das Genre wird von vielen Menschen missverstanden. Du musst alles ein bisschen können, tanzen, singen, spielen. Es ist aber mehr als nur ein bisschen von allem. Man erkennt sofort, wenn das Handwerk fehlt. Wenn du direkt nach einem Monolog singst und nicht mehr weiterspielst, das fällt auf. Man muss alle drei Sparten komplett durchdringen.

Die größte Krise durchlitt die Theaterbranche fraglos in der Pandemie. Was haben Sie gemacht in dieser Zeit?
Das war echt krass. Ich hatte Aufnahmeprüfung in ­Essen, bekam die Zusage – und zwei Tage vor Studienbeginn hieß es, dass es keinen Präsenzunterricht geben könne. Man freut sich dermaßen, und dann ist alles eingefroren. In meinem Jahrgang sind wir zu sechst, es gab viel Online-Unterricht. Immerhin hatten wir genügend Zeit, die Inhalte zu verarbeiten. Ich bin jedenfalls absolut zufrieden, auf der Folkwang zu sein. Hier liegt der Fokus auf dem Künstler und der Persönlichkeit dahinter, also: Wie kann ich mit meiner Farbe diese Rolle bereichern? Das macht einen zu einem sehr autonomen Darsteller. Ich bin froh, dass ich während Corona den Uni-Schutzmantel hatte, statt in der Realität mit roten Fahnen erwartet zu werden.

Stage Entertainment meldet erstmals wieder Besucherzahlen auf Vor-Corona-Niveau. Dennoch steht die Branche vor der Herausforderung, immer wieder ein neues, junges Publikum anzusprechen. Haben vielleicht Sie das Patentrezept?
Es ist eine schwierige Branche. Musicals wie „­Moulin Rouge“ schaffen es, die Leichtigkeit des Genres zu feiern. Und es gibt die Produktionen, die genau diese Erwartung mit Ernsthaftigkeit brechen. Viele glauben, Musical sei eine grelle Welt mit Tanz und Glitzer, dabei ist es so viel mehr. Deutschland hat Staats- und Stadttheater, die die kleineren, ernsthaften Formate bedienen, wie zuletzt Fürth mit „Scholl – Die Knospe der Weißen Rose“. Und in Hamburg gibt es eben die Großformate. Diese Mischung hält das Genre lebendig.

Auftrittspraxis im Studium (Foto Felix Rabas)

Sie beenden Ihr Studium Anfang 2024 – und dann?
Ich bin sehr gespannt. Natürlich guckt man, welche Geschichte man erzählen möchte. Stage oder das ­Ronacher würden mich interessieren, weil ich gern wüsste, wie es ist, pro Woche sieben Shows zu stemmen. Das ist sehr, sehr anstrengend. Für den Sommer 2024 ist etwas in Aussicht, das beruhigt erstmal. Durch den MUT-Preis habe ich schon auch die Möglichkeit zu sagen: Hey, ich bin Antonia!

Zum Job gehört auch die Robustheit, mit Absagen ­leben zu können. Können Sie?
Das Abgelehntwerden ist eine Komponente, die sich nicht leugnen lässt. Heute bist du vielleicht ein Star, morgen auf der Suche. Man muss lernen, sich damit vertraut zu machen. Dafür wird man in unfassbar vielen Momenten belohnt und weiß, weshalb man das macht.

Was muss man gemacht, erlebt, erlitten ­haben, um sich sagen zu können: Ich hab’s geschafft.
Superwichtig ist, sich ein Ziel zu setzen. Du bleibst sehr unglücklich mit dem Anspruch, es nur geschafft zu haben, wenn du bei großen Produktionen bist. Es liegt viel Frieden darin, sich den Druck zu nehmen. Brillieren kann man auch in Nebenrollen. Nichts gegen eine Hauptrolle, doch das muss im Verhältnis stehen zum persönlichen Flow.

Auf wessen Ratschläge vertrauen Sie?
Am allermeisten auf die meiner Familie. Nach einem Abend vor 700 Leuten muss man sich daran erinnern, dass man ein ganz normaler Mensch ist. Dafür habe ich meine Familie und einen guten Kumpel.

Wenn man Ihre Lieblings-Playlist durchforstet, welche Künstler finden wir da?
Auf jeden Fall Enya. Auch Joe Cocker, da sehe ich sofort, wie meine Mutter mit ihren Dance Moves durchs Wohnzimmer hottet. Aber bei mir gibt’s auch Techno, Klassik und ich mag Hörbücher sehr.

Lieber Teufelsmoor und Strand oder Berge?
Teufelsmoor. Mein Vater kommt zwar aus Bayern, aber Strand und Wasser machen das Rennen.

Hund oder Katze?
Hund. Ich liebe Katzen, habe aber eine Katzenhaar-Allergie.

Wagen oder E-Bike?
In Essen zu Fuß. Ein E-Bike hatte ich noch nie, und ich finde Autofahren unfassbar beruhigend.

Knüppel aus dem Sack oder Quinoa-Salat?
(lacht) Auf jeden Fall Quinoa-Salat! Was ist denn bitte Knüppel aus dem Sack?

Eine Bremer Mettwurst.
Nein, ich bin vegan unterwegs.

Wenn wir in zehn Jahren erneut ein Interview führen, wozu würden Sie sich dann gern gratulieren?
Dass ich Menschen getroffen habe, die mir geholfen haben, mich zu verbessern. Dass ich einen Workshop in den USA besucht und in einer Stage-Produktion mitgespielt habe. Dass ich weiß, dass ich nicht alles gemacht haben muss – und wie ich mir meine Energie einteile.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2023

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