von Claus-Ulrich Heinke

Dreimal an einem Tag werden die Kinder der griechischen Sagengestalt Medea auf offener Bühne ermordet. So geschehen im Stadttheater Hildesheim. Das dort beheimatete Theater für Niedersachsen (tfn) hat die Tragödie der als Kindsmörderin verfemten Medea mit Tanz, Oper und Schauspiel als thematische Trilogie in den Spielplan genommen.

Das tfn ging 2007 aus der Fusion des Stadttheaters Hildesheim und der Landesbühne Hannover hervor. Mit seinen drei Sparten Oper, Schauspiel und Musical verbindet es die klassische Stadttheaterfunktion mit Abstechern zu über 50 Orten in Niedersachsen. Für Tanzproduktionen wird außerdem mit freien Gruppen zusammengearbeitet.

Themen-Trilogien sind eine der Neuerungen, mit denen Oliver Graf zu Beginn jeder Saison interessante Akzente im Spielplan setzt. Seit 2020 ist er Intendant des tfn und überzeugte gleich in seiner ersten Spielzeit mit einem „Räuber“-Schwerpunkt: Schillers Drama, die Oper „I briganti“ von Saverio Mercadante (1795-1870) und eine Choreografie von Marguerite Donlon. Alle drei Sparten verwendeten dabei dasselbe Bühnenbild. Presseecho und Besucherzahlen bestätigten trotz diverser Hürden (Stichwort Lockdown und Wasserschaden) den Erfolg dieses Konzeptes, deren einzelne Produktionen nicht nur an jeweils eigenen Abenden zu erleben waren, sondern in geballter Form auch an einem besonderen Thementag. Grund genug, mit der Medea-Trilogie diesen Weg nun weiter zu beschreiten.

Verbindendes Element der drei „Medea“-Produktionen: das Bühnenbildmodell von Anna Siegrot

Oper, Schauspiel, Tanz

Die über den Tag verteilten drei Bühnenproduktionen zeigen, dass das TfN mit seinen Ensembles zu hohem künstlerischem Niveau in der Lage ist. Alle Vorstellungen spielen wieder im selben Bühnenbild, das diesmal Anna Siegrot als vielfach verwendbares Gerüst entworfen hat. Transparente Vorhänge bieten räumliche Variationen an. Und auch die Kostüme folgen einem gemeinsamen ästhetischen Gedanken: Die Farben der korinthischen Hofgesellschaft, in der sich das Drama abspielt, sind kühl und metallisch. Medeas Fremdheit in dieser Umgebung wird mit Rot, Braun und Erdfarben ausgedrückt. Spannend zu erleben, wie unterschiedlich die drei Produktionen mit diesem gemeinsamen Bühnenkonzept umgehen.

Marguerite Donlon und Marioenrico D’Angelo entwerfen mit ihrem Donlon Dance Collective eine in sich schlüssige Choreografie mit einer faszinierenden Fülle von immer neuen Ausdrucksformen zwischen klassischem und zeitgenössischem Tanz. Medea (Dana Pajarillaga!) ist hier eine von der Stadtgesellschaft vertriebene Fremde, die Mitgefühl und Verständnis verdient. Die italienische Musikerin Federica Cino komponierte dazu eine neue Musik, teilweise unmittelbar unter Probeneindrücken entstanden. Damit grundiert mit ihrer assoziativ gebauten Klangwelt das Geschehen hintergründig, abgründig und ab und zu auch vordergründig. „Sie hat mit ihrer Musik für die Inszenierung wirklich eine neue Welt eröffnet“, sagt Choreograf Marioenrico D’Angelo über die Zusammenarbeit.

Choreografierter Mythos: Dana Pajarillaga (Medea) und David Pallant (Jason) (Foto Tim Müller)

Mit der Medea-Oper von Giovanni Pacini (1796-1867) bringen GMD Florian Ziemen und Regisseurin Beka Savić eine Rarität bester Belcanto-Tradition als deutsche Erstaufführung auf die Bühne. Die Partitur wird von einer überraschend farbigen Instrumentierung bestimmt. Melodien, die dem emotionalen Ausdruck des Textes folgen, harmonische Entwicklungen sowie rhythmische Vielfalt machen diese Oper zu einem Kunstwerk. Stimmlich ist durchweg qualitätsvoller Gesang zu hören. Herausragend dabei Robyn Allegra Parton als Medea. Es muss in der Tat nicht immer Verdi sein.

Und dann das Schauspiel. Zusammengesetzt ist es aus Teilen der Medea-Version von Pierre Corneille (1606-1684), Abschnitten des Euripides-Dramas und eigenen Texten des Ensembles. Regisseurin Asli Kişlal lässt ihre Medea dabei zum Symbol für starke Frauen der Geschichte werden, die sich für Gerechtigkeit und Liebe einsetzen. Alle aber scheitern an der von Männern bestimmten brutalen Realität. Linda Riebau hat mit einem kämpferisch intonierten, fast 50-minütigen Monolog ihren großen Auftritt in der Titelrolle.

Corneille trifft Euripides trifft eigene Ensemble-Texte: Linda Riebaus Medea im Schauspiel (Foto Tim Müller)

Festival-Atmosphäre mit Maria Callas

Darüber hinaus gibt es noch die überraschende Begegnung mit Maria Callas als Medea. Der im gleichen Gebäudekomplex residierende Thega-Filmpalast bringt nämlich Pasolinis geheimnisvollen Medea-Film von 1969 mit der großen Primadonna in der Hauptrolle in das Tagesprogramm ein. Die Callas agiert hier als überwiegend schweigende Schauspielerin. Die Kamera konzentriert sich dabei immer wieder in Großaufnahmen auf ihr Gesicht und die Sprache ihrer Augen. Das hinterlässt neben den faszinierenden Naturbildern und den teilweise verstörenden mythischen Riten einen so starken Eindruck, dass dahinter die Erlebnisse aus Oper, Schauspiel und Ballett zu verblassen drohen. Obwohl diese live wirklich auf hohem Niveau gespielt, gesungen und getanzt werden.

Wer den ganzen Tag dabei bleibt, kann neben den Bühnenaufführungen noch anderes erleben. So trifft man sich zwischen den Vorstellungen zu Podiumsdiskussionen, Einführungen, Nachgesprächen, Führungen durch Werkstätten und kann an einem Tanz-Workshop teilnehmen. Sonderangebote benachbarter Gastronomie und Getränke an Stehtischen unter alten Bäumen vorm Theater schaffen bei herbstlicher Sonne kommunikative Festival-Atmosphäre.

Ausstellungseröffnung (Foto Toni Rack)

Hildesheim wurde zwar nicht Kulturhauptstadt 2025, worum man sich mit einem ausgefeilten innovativen Konzept beworben hatte. Gleichwohl ist diese Stadt und ihre Region aber immer eine Kultur-Reise wert. Auch, weil hier kreatives und qualifiziertes Theater lebendig ist.