von Rüdiger Heinze

Klar sei er aufgeregt. So viele Menschen wie jetzt im Stuttgarter Wilhelma Theater haben er und seine Kumpels seit Langem nicht mehr auf einem Fleck gesehen. Und der Anstaltsleitung solle ja auch gezeigt werden, dass man in den vergangenen Wochen nicht nur Kaffee getrunken hat. Außerdem: „Ich war noch nie nüchtern bei einem Hip-Hop-Auftritt draußen, das ist jetzt eine ganz neue Erfahrung für mich.“

Louis, „21 Jahre jung“, wie er selbst sagt, ist Insasse einer der größten Jugendstrafanstalten Deutschlands. Mit 417 Plätzen für männliche Straftäter plus Zusatzbetten für Untersuchungshäftlinge. Drumherum eine 1.300 Meter lange, 5,5 Meter hohe Mauer, über die von draußen schon mal (mit was auch immer) gefüllte Tennisbälle fliegen. Etliche werden abgefangen, einige nicht. Deswegen gibt es auch gelegentlich Urin-Proben. Jüngst traf es auch Louis, um 7 Uhr in der Früh und unpassenderweise am Tag des ersten Konzertauftritts. Befund: negativ, zum Glück. Im „positiven Fall“ – Louis sitzt hier, weil er Drogen vertickt hat – wäre ein 100.000 Euro teures, stark sponsorengestütztes soziokulturelles Projekt geplatzt. Denn Louis ist Protagonist und unabkömmlich bei der „Beethoven-RAPsody“ aus der Jugendstrafanstalt Adelsheim nahe Heilbronn. Einen internen Rap-Wettbewerb unter zehn Teilnehmern hatte er dort schon gewonnen, hörbares Talent und Darstellungswille sind fraglos vorhanden. Jetzt kommt Gesamtverantwortung hinzu, siehe Urin-Probe.

Nicht alle der ursprünglich 22 Insassen-Teilnehmer sind hier bei der Generalprobe zu „Himmel über Adelsheim – Eine Beethoven-RAPsody“ in einer Turnhalle der JVA noch dabei. Aktuell sind es nur noch 15, denn es gab auch Zwischenfälle mit Disziplinarmaßnahmen. Von den 15 wiederum dürfen nur neun mit leichteren Haftbedingungen zur öffentlichen Aufführung ins Stuttgarter ­Wilhelma Theater, was insofern schade ist, als es dort fünf erklatschte Zugaben geben soll. Neun können mit, aber nur acht kehren – nach Körperkontrolle – zurück nach Adelsheim. Für einen heißt es mit dem finalen Klatscher: Entlassung. Dieser Eine übrigens bleibt um des Projektes Willen zwei Nächte länger in der JVA als vorgesehen. Das kann man guten Gewissens schon mal als einen Erfolg des ganzen Unternehmens verbuchen.

Rap, Klassik, Tanz, Pantomime, Breakdance, Chorgesang, Beatbox – und ganz viel Spaß (Foto Oliver Röckle)
Rap, Klassik, Tanz, Pantomime, Breakdance, Chorgesang, Beatbox – und ganz viel Spaß (Foto Oliver Röckle)

„Drinnen und Draußen“ – Begegnung auf Augenhöhe

Maßgeblich auf die Beine gestellt wurde das Projekt vom Stuttgarter Kammerorchester – und zwar aus der Überlegung heraus, welche gesellschaftlich randständigen Gruppen partizipativ mit dem Ensemble tätig werden könnten. Um Kunst geht es im speziellen Fall natürlich auch, vor allem aber um „Sozialarbeit, und zwar zu 90 Prozent“, wie es Katharina Gerhard formuliert, die für das Vermittlungsprogramm des ­Stuttgarter Kammer­orchesters zuständig ist. Das heißt konkret: Stärkung von Ausdrucksfähigkeit und Selbstbewusstsein, Stärkung der Konzentration und der sozialen Umgangsformen.

Und so treffen nun Beethoven auf Rap und eineinhalb Dutzend feinsinnige Streicher des Orchesters sowie die Chordamen der Musikschule Möckmühl auf markige, sichtbar nervöse Jungs. Eine durchaus reizvolle, aparte, kurzweilige Gemengelage. Ebenfalls dabei sind Mitarbeiter der JVA, ein Seelsorger und eine Verwaltungssekretärin im Chor, ein Werkmeister auf der türkischen Laute, ein Vollzugsbeamter als Breakdancer: alles in einem „Rap im Knast“-Workshop erarbeitet, wie ihn bundesweit Danny Fresh, im wirklichen Leben Daniel Ohler, anbietet. Wichtig ist, dass sich „Drinnen und Draußen“ – soweit möglich – auf Augenhöhe begegnen und Respekt zeigen vor dem Gegenüber und dessen Können. Es geht um Gemeinsamkeit, so wie auch zehn „externe“ Lehrlinge die JVA zur Berufsausbildung täglich besuchen. Regisseurin Nina Kurzeja beteuert, dass es – eben aufgrund der verabredeten Augenhöhe – bei szenischen Anweisungen nie Akzeptanz-Probleme gegeben habe. Womöglich ist das draußen in der Freiheit im Zweifelsfall noch anders als bei diesem, übrigens ausschließlich von Frauen geleiteten, Musikprojekt im Knast. Neben Kurzeja und Gerhard sind auch noch Dirigentin ­Viktoriia ­Vitrenko und Ausstatterin Marie ­Freihofer mit von der Partie.

„Nur wer die Sehnsucht kennt“ – eine Fusion geht unter die Haut

Und dann hebt sie an, die Show, deren Texte nicht zensiert sind. Darauf legt der JVA-Leiter, Regierungsdirektor Dr. Nikolas Blanke, Wert. Obwohl sie in manchem Detail nicht seinen eigenen Überzeugungen entsprechen. Gut möglich, dass er damit solche Rap-Zweizeiler meint: „Mit Sechzehn dachte ich, ich hätte alles im Griff – doch wurde vom Schicksal gefickt.“ Wichtiger jedenfalls waren Blanke der individuelle Ausdruck von Erfahrungen und Gefühlen in einer jeweils passenden Form bis hin zum Gangsta-Rap. Das Textbuch zur Aufführung vermerkt denn auch geflissentlich-fettgedruckt: „Selbst ein Genie wie Beethoven hatte durch seine chaotische Lebensweise Probleme mit der Staatsgewalt.“ Da treffen sich dann Ludwig, Louis und die Musik. Alles ist Collage und Fusion: Rap, der Klassik-Titan mit Kunstliedern und seinem chorisch aufgeführten Streichquartett „serioso“, op. 95, Tanz, Pantomime, Breakdance, Chorgesang, Beatbox.

JVA trifft Kammer­orchester: ein geglücktes Experiment mit Vorbildcharakter (Foto Oliver Röckle)
JVA trifft Kammer­orchester: ein geglücktes Experiment mit Vorbildcharakter (Foto Oliver Röckle)

Einiges davon hört man in dieser besonderen Umgebung vollkommen neu, etwa Beethoven und seine Vertonung von „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“ oder seinen „Erlkönig“ („Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir“, „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“). Aber: Beethoven ist schön und gut und wahr. Unmittelbar eindrücklicher, energetischer vor der gegeben-abgesperrten Situation ist so mancher selbstverfasste Rap – beziehungsweise deren gemeinsame Nenner. Hört eine genau hin, liest einer genau nach, so sticht in Ohr und Auge, was immer wieder Gegenstand der rhythmisch-straighten Songs ist: die Tränen der Mütter über den verlorenen Sohn, dazu eine besungene innere Leere. Beides macht nachdenklich – vor allem im Verbund mit Geständnissen, Selbstbezichtigungen („Meine Versprechen, ja, sie waren immer mangelhaft“), Credos („Ich schaue dem Teufel in die Augen, um Gott wieder zu sehen“), Erinnerungen („Es war ’ne schöne Zeit. Als ich nach Hause kam, gab es immer was Warmes zu essen“), Plänen („Hab’ ein Kind, deshalb muss ich jetzt ein Vorbild sein“). Sätze, die beklemmen, Sätze, die rausmüssen auf der Folie der Kunst. 50 Prozent der jungen Insassen (Durchschnittsalter: 20 Jahre) haben denn auch ein Broken-Home-Leben hinter sich. Beethovens „Fidelio“ spielt da keine Rolle, wir haben es nicht mit politischen Gefangenen zu tun. Erstaunlich blass jedoch ist im Gesamtzusammenhang der ins Boot geholte Profi-Rapper „Afrob“, sowohl vokal wie körpersprachlich. Meint auch der 19-jährige Slako, Gefangener mit Heimat Konstanz: „Absolut unauthentisch.“

Tamara Scherer, Sozialarbeiterin und Freizeitpädagogin in der JVA Adelsheim, spricht einen bemerkenswert zweigeteilten Satz: „Die Jungs sind begeisterungsfähig für alles – Hauptsache raus aus der Zelle.“ Louis, der nicht mehr viel Zeit im Knast vor sich hat, wenn der Richter mitspielt, widerspricht dem nicht. Er, der Hip-Hopper, sei am Anfang nicht ganz mit Herz und Seele dabei gewesen. Aber er wisse genau, was für ihn zu tun sei demnächst. Erstens: Bewährung einhalten. Zweitens: die Verwirklichung seines Traumes, Musik zu machen. „Dafür ist das Projekt doch schon ein ganz guter Anfang.“ Wobei: „Der deutsche Mainstream-Rap ist nichts für mich.“ Wir drücken die Daumen, er hätte die Chance verdient …

Es gibt übrigens bereits Nachfrage nach württembergischen Folgeprojekten. Vielleicht ja das nächste Mal in der Frauenhaftanstalt Schwäbisch Gmünd?


Lieber Louis und all die anderen,

ich denke, Ihr lest das irgendwann. Deshalb: Vielen Dank für Eure beeindruckende Performance – „großes Kino“! Ihr habt gezeigt, was ihr draufhabt. Vergesst später nie, wie sich das angefühlt hat, auf dieser Bühne zu stehen – vor allem, wenn „draußen“ das Leben schwierig wird. Man kann sehr viel schaffen, wenn man wirklich will und sich dafür reinhängt. Nicht alles klappt auf Anhieb und immer – bei niemandem. Niederlagen sind keine Schande. Von Herzen alles Gute für Euch, Ihr habt unseren Autor und mich schwer geflasht an diesem Nachmittag!

Iris Steiner, „orpheus“-Redaktion

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2022

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