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Beiträge 2022/01

Es sung ein Engel einen süßen Gesang

Edita Gruberová – ein sehr persönlicher Nachruf

Edita Gruberová – ein sehr persönlicher Nachruf

von Rüdiger Heinze

„Ich stieg ihr nach“ – so steht’s geschrieben im Operntagebuch, 6. Juni 1989. Eine halbironische Anmerkung zu dem, was geschah, als Edita Gruberová am späten Abend dieses Tages das Konzerthaus Wien verlassen hatte und mutterseelenallein durch die Straßen Wiens der Nachtruhe zustrebte. Und hinter ihr, in gebührendem Abstand, ein Anbetender, einigermaßen jung, der meinte, es könne nicht schaden, auf diesen Engel ein Auge zu haben und ihm beizuspringen, falls Not wäre. Nicht mehr, nicht weniger.

Das wahre Ereignis des Abends ist andernorts besser dokumentiert – auf CD. Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus hatten zur konzertanten Aufführung von Mozarts bis heute unterschätzter Jugendoper „Lucio Silla“ geladen, und die Solisten-Besetzung hätte stimmschöner, leichter ansprechend im Ton, beweglicher nicht sein können: Peter Schreier, Dawn Upshaw, die seinerzeit noch blutjunge Cecilia Bartoli – und natürlich sie, die Gruberová. Wer sonst auch hätte das Zirzensische, den irrsinnig langen Atem, die gute Seele, die achtminütige Koloratur-Ekstase der Giunia in „Ah! se il crudel periglio“ derart hinkriegen sollen? Treffliche Koloratur-Soprane gibt es manche; die Stimmen aber für Giunia flogen nie im Dutzend herum.

Und dann packte sie auch ihr Goldschmiede-Besteck für so gestochene wie lupenreine mozärtliche Skalen und Ketten aus, jonglierte gleichsam auf einem Hochspannungsseil mit neun Bällen gleichzeitig, drängte, kostete aus, zauberte – und traf ins Schwarze aller Opera-seria-Affektkunst. Es folgte, was Edita Gruberová gewohnt war und sie über nahezu 50 Jahre begleitete: Das Auditorium raste. Es gibt einen Unterschied zwischen heller Begeisterung und dem Taumel der Verzückung.

Ein Bild aus dem Jahr 1996 (Foto Wilfried Hösl)

Sternenlaufbahn einer Assoluta

Dieser Abend gehörte noch zur ersten Hälfte einer insgesamt überragenden Lebensleistung der 1946 in Bratislava geborenen, bei Ruthilde Boesch in Wien weitergebildeten Jahrhundertstimme, die erstmals 1970 als Königin der Nacht an der Wiener Staatsoper auf sich aufmerksam machte – und 1976 dann, ebenfalls in Wien, mit ihrer Paraderolle der Zerbinetta aus Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ alle bis dato bekannten Virtuositätsgrenzen durchbrach. Von nun an war sie als Zerbinetta gefragt nicht nur in ihren bevorzugten Heimspielstätten Wien, Salzburg, Zürich, München, sondern in aller Welt, umkränzt natürlich von den hohen Koloratur-Partien aus Mozart-, Rossini-, Verdi-Opern. Gibt das Operntagebuch zur Zerbinetta auch was her? Es gibt. 31. Juli 1981, Bayerische Staatsoper München: „Besser als Edita Gruberová heute die Zerbinetta-Arie gesungen hat, ist dieses nicht zu denken.“ Da hatte sie auf dem Hochspannungsseil Saltos geschlagen, die zu einschlägig-ungläubigem Kopfschütteln im Publikum führten: Wo holt die das nur her? Hernach aber hörte es sich an, als ob die Stehplätzler die Galerie der Staatsoper zerlegen würden. Wo hört der Taumel der Verzückung auf, wo beginnt der Fanatismus?

Rund 200 Mal sang Edita Gruberová die Zerbinetta – und baute gleichzeitig sorgsam das Repertoire für die zweite Hälfte ihrer Sternenlaufbahn auf: die tragischen großen (Titel-)Rollen des italienischen Belcanto, oftmals dem Wahnsinn und der Wahnsinns-Arie geweiht, die drei Tudor-Königinnen Donizettis („Maria Stuarda“, „Anna Bolena“ und Elisabetta I. aus „Roberto Devereux“), vor allem aber Donizettis „Lucia di Lammermoor“, diese zweite Paraderolle Gruberovás, der sie erklärtermaßen nie überdrüssig wurde. Lucias Koloraturen hatte die Primadonna so gottgelenkt wie hart erarbeitet drauf. Nun kam noch das ausgebreitet Sublime der messa voce dazu, die hohe Kunst nicht nur vom Ansetzen des Tons, sondern auch seines Entwickelns, seines verfärbungsfreien Öffnens und verfärbungsfreien Abblendens und schließlich seines Verhauchens. In einem einzigen, über allem schwebenden Ton war gleichsam ein ganzes tragisches Schicksal komprimiert: das Aufblühen der Hoffnung aus der Depression, das Versinken der Hoffnung in die Verzweiflung.

In der Titelpartie von Donizettis „Anna Bolena“, Bayerische Staatsoper 1996 (Foto Wilfried Hösl)

Und wenn dazu noch jene Glasharfe ertönte, wie sie Donizetti original der Lucia di Lammermoor zugesellt hatte, dann war in der Verschmelzung von menschlicher Glockentonreinheit und instrumentalem Sphärenklang ein Höchstmaß an entmaterialisierter, ätherischer Entrückung erreicht. Die Gruberová sang, dem empfangsbereiten Publikum stockte der Atem unter ihrem szenenüberspannenden Vokalgewölbe voller feinst platzierter Spitzentöne als Schlusssteine. Das Operntagebuch zum Dritten (30. Oktober 1995, Bayerische Staatsoper): „Gruberová als Lucia di Lammermoor natürlich sehr gut. Callas war leidenschaftlicher, Gruberová ist subtiler.“

Belcanto-Botschafterin gegen alle Widerstände

Dass auch die lange Belcanto-Phase der Gruberová auf CD greifbar ist – und zwar in Live-Mitschnitten –, dies verdankt sie Sponsoren, Liebhabern, ihrem einstigen Lebensgefährten, dem österreichischen Dirigenten Friedrich Haider, und ihrem Eigen-Engagement: Nachdem die großen Plattenlabels abgewunken hatten, weil sie speziell für Bellini und Donizetti keinen Markt mehr zu erkennen glaubten, wurde das Label „Nightingale“ gegründet: Sie sang, er dirigierte – wie es einst auch Joan Sutherland und Richard Bonynge Seite an Seite taten. Man teilte Brot, Bett und Bühne. Und ähnlich wie sich die Callas speziell um Cherubinis „Médée“ verdient gemacht hatte und die Sutherland die „Sonnambula“ Bellinis am Traumwandeln hielt, so kam es nach Jahrzehnten zur Wiederbelebung von Donizettis „Linda di Chamounix“ durch die Gruberová und Haider, dann zur Wiederbelebung des „Roberto Devereux“.

Das war 2004, und erschütternd blieb in Christof Loys starker Münchner Inszenierung der Moment, da die desillusionierte Elisabetta I. alias Margaret Thatcher die Repräsentationsperücke vom Kopf zog und schonungslos als Greisin mit schütterem Haar dasteht. Das war das schiere Gegenteil von dem, was Edita Gruberová so oft zuvor erfahren hatte: Rampentheater, Stehkonvent, Verkehrsregelungstheater, bei dem der rote Teppich mal sprichwörtlich, mal realiter ausgerollt worden war, auf dass sie nur eines tue: engelsgleich singen. So kam es auch zu mancher zwar musikalisch glückseligen, aber szenisch faden Produktion.

Donizettis „Roberto Devereux“ indes zählte eben nicht dazu. Und mit ihm verabschiedete sich Edita Gruberová 2019 auch vielsagend von der Opernbühne. Die Assoluta dankte ab in München, angekündigt, offiziell, nicht mehr ganz so leicht schwebend. Es regnete aus dem Himmel Rosenblätter für sie, es dankten ihr Transparente in den Rängen, und während des sage und schreibe einstündigen Final-Applauses übte der den Kniefall, mit dem sie nicht arg lange zuvor ein Scharmützel in Verpflichtungsdingen ausgefochten hatte: Intendant Nikolaus Bachler. Wenigstens ihre weiß Gott erhörte Gesangskarriere konnte Edita Gruberová vollenden.

Als Norma an der Bayerischen Staatsoper, 2006 (Foto Wilfried Hösl)

Kasteiung und Opernhimmel

Auf den Tag genau zwei Jahre später, am 18. Oktober, starb sie am Zürichsee. Die wohl schönste Todesanzeige schaltete der neue Münchner Staatsopern-Intendant Serge Dorny und sein geschäftsführender Direktor: „Die Bayerische Staatsoper verneigt sich vor der wunderbaren, einzigartigen, göttlichen Edita Gruberová und wird nicht aufhören, sie und ihre Kunst zu verehren.“

Welchen Sinn über die makellose Schönheit und über den allzu frühen Tod hinaus könnte das Leben Edita Gruberovás haben? Sie könnte in ihrer Disziplin eine Referenzgröße dafür sein, wie eine sängerische Laufbahn aufzubauen und klug auszugestalten ist. Im konkreten Fall heißt das: erst perfekte Technik schafft die Grundlage für künstlerische Höhenflüge, langsam Erfahrung sammeln, keine Fachgrenzen überschreiten, Auswahl individuell geeigneter Partien, begrenzte Anzahl von Auftritten im Jahr mit einzukalkulierenden Ruhetagen, kein Rauchen, kein Alkohol, keine lauten Gespräche. Das mag in der Summe von manchem Sopran, manchem Tenor als Zumutung empfunden werden, zumal es nicht einmal in der Summe eine Garantie bedeutet. Gleichwohl: Im Fall Edita Gruberová waren Kasteiung und Opernhimmel die zwei Seiten ein- und derselben Münze.

Mozart x3

Elsa Dreisigs Verneigung vor dem Genie

Elsa Dreisigs Verneigung vor dem Genie

Interview Florian Maier

Im Booklet zu Ihrer neuen CD stellen Sie direkt selbst eine naheliegende Frage in den Raum: „Noch ein Mozart-Album?“
(lacht) Ja! Weil es sich für mich gerade jetzt absolut richtig angefühlt hat. Ich singe in letzter Zeit unglaublich viel Mozart-Repertoire: mein Debüt bei den Salzburger Festspielen mit Fiordiligi, die Da-Ponte-Trilogie an der Berliner Staatsoper unter Daniel Barenboim, … Als dann der Direktor von Warner Music mit der Idee auf mich zukam, ein Album zu machen, auf dem ich mich durch verschiedenste Mozart-Opern singe, habe ich natürlich sofort zugesagt.

Eine Verneigung vor dem Komponisten, der Ihrer Karriere starken Auftrieb gegeben hat?
Auf jeden Fall! Mozart begleitet mich schon mein ganzes Leben. Meine Mutter hat während ihrer Schwangerschaft mit mir sehr viel Pamina gesungen. Sie hatte immer das Gefühl, dass ich in diesen Momenten in ihrem Bauch besonders glücklich war. Beim Besuch einer zeitgenössischen Oper habe ich sie wohl stattdessen sehr getreten, anscheinend eine Form von frühkindlichem Protest. (lacht) Auch im Laufe der Jahre bin ich nie von Mozart losgekommen – „Die Zauberflöte“ war schon immer meine Lieblingsoper, die Pamina an der Berliner Staatsoper dann auch folgerichtig meine erste Partie auf einer großen Bühne.

Was verbirgt sich hinter dem Albumtitel „Mozart x3“?
Arien von jeweils gleich drei Charakteren aus den drei Da-Ponte-Opern, ergänzt um Auszüge aus den drei Opere serie „Idomeneo“, „Lucio Silla“ und „La clemenza di Tito“. Ein Dreiklang in mehrerlei Hinsicht also. Gerade Mozart bietet sich dafür ganz besonders an.

Inwiefern?
Weil seine Figuren im Gegensatz zu vielen anderen Opern sehr modern, dreidimensional, menschlich sind. Nehmen wir beispielsweise Fiordiligi. Sie ist sehr widersprüchlich, sie sagt etwas und macht etwas anderes, macht etwas und sagt etwas anderes – ganz wie im wahren Leben. (lacht) Mozart und Da Ponte ist es gelungen, Frauen fast schon magisch in Musik zu transponieren. Wenn man sich wirklich mit Musik und Libretto von „Le nozze di Figaro“, „Don Giovanni“ und „Così fan tutte“ auseinandersetzt, trifft man auf sinnfällige, komplexe Charaktere – keine reduzierten Bühnenfiguren, sondern richtige Personen. Das Libretto gerät dabei nie zur Karikatur, die beste Musik ist meiner Meinung nach immer den Frauenpartien zugedacht – was will man mehr?

Karrierekick zum Salzburger Festspiel-Jubiläum: Elsa Dreisig als Fiordiligi in Mozarts „Così fan tutte“, 2020 (hier mit Johannes Martin Kränzle und Marianne Crebessa) (Foto Salzburger Festspiele/Monika Rittershaus)

Trifft das in Ihren Augen auch auf die noch mehr der Tradition verpflichteten Opere serie zu?
Man merkt schon, dass „Idomeneo“, „Lucio Silla“ und „La clemenza di Tito“ nicht im genialen Teamwork mit Da Ponte entstanden sind. Der „Spirit“ ist hier ganz anders, irgendwie auch intimer. Ich spüre Mozart in diesen Werken fast mehr als in den Da-Ponte-Opern, die zweifellos figurentechnisch die Nase vorn haben.

Welche Partie war für Sie technisch gesehen die größte Herausforderung?
Donna Elviras Koloraturen in der Arie „Mi tradì quell’alma ingrata“ sind sehr merkwürdig. Sie ist emotional völlig verloren, was sich auf die Musik überträgt und es ziemlich schwer macht, als Interpretin Halt zu finden. Fiordiligi und Vitellia sind ebenfalls nicht zu unterschätzen, da man hier jeweils den Spagat zwischen der nötigen Höhe wie auch Tiefe bewältigen muss – und das im Idealfall nicht auf Kosten eines schönen Glanzes.

Sie entfesseln auf Ihrem Album einen rasanten „Rausch der Affekte“. In welcher Gefühlswelt fühlen Sie sich künstlerisch denn am wohlsten?
Ich mag „dunklere“, ambivalente Frauen sehr gerne, die ruhig auch kompliziert sein dürfen – Elettra, Vitellia, Fiordiligi oder auch Dorabella. Solche Partien sind meist energiegeladener und komplexer als „süße“ Rollen. Die Arien von Susanna und Donna Anna sind ebenfalls wunderschön. Aber dafür braucht man eine unglaubliche stimmliche Ruhe über lange Strecken, um ausgedehnte Phrasen sanft und fast schon schwebend zu bewältigen. Daran arbeite ich noch. Vielleicht auch deshalb, weil ich selbst kein ruhiger Mensch bin. (lacht)

Ein Blick auf Ihre bisherigen Alben „Miroir(s)“ und „Morgen“ verrät, dass Ihnen ein bloßes „Best-of Klassik“ nicht genug ist. Sehen Sie in hochwertigen Konzeptalben die Zukunft des Tonträgermarktes?
Ich denke, das kommt immer auf die Künstlerpersönlichkeit an. Mir macht es sehr viel Spaß, Programme zu erfinden und einen roten Faden in auf den ersten Blick merkwürdigen Kombinationen zu entdecken. Ein Album ist für mich mehr eine Spielwiese und weniger eine Miniatur, mit der man zeigt, wer man ist und wie gut man etwas singt. Natürlich kann man auch Spaß mit einem „klassischen“ Album voll großartiger Opernarien haben – Renée Fleming, Anna Netrebko und Angela Gheorghiu haben das oft genug bewiesen. Aber für mich ist das noch zehn Jahre zu früh, ein solches Projekt erfordert unglaubliche Stimmsicherheit und dafür fehlt es mir noch an Erfahrung. Im Hier und Jetzt ist es mir wichtiger, meine Persönlichkeit, Kreativität und Abenteuerlust zu zeigen. Aber irgendwann kommt das Belcanto-Album bestimmt. (lacht)

EMPFEHLUNG

„Mozart x3“
Elsa Dreisig, Louis Langrée, Kammerorchester Basel
1 CD, Erato

Eine Bühne, drei Konzepte

Die Medea-Trilogie am Theater für Niedersachsen (tfn)

Die Medea-Trilogie am Theater für Niedersachsen (tfn)

von Claus-Ulrich Heinke

Dreimal an einem Tag werden die Kinder der griechischen Sagengestalt Medea auf offener Bühne ermordet. So geschehen im Stadttheater Hildesheim. Das dort beheimatete Theater für Niedersachsen (tfn) hat die Tragödie der als Kindsmörderin verfemten Medea mit Tanz, Oper und Schauspiel als thematische Trilogie in den Spielplan genommen.

Das tfn ging 2007 aus der Fusion des Stadttheaters Hildesheim und der Landesbühne Hannover hervor. Mit seinen drei Sparten Oper, Schauspiel und Musical verbindet es die klassische Stadttheaterfunktion mit Abstechern zu über 50 Orten in Niedersachsen. Für Tanzproduktionen wird außerdem mit freien Gruppen zusammengearbeitet.

Themen-Trilogien sind eine der Neuerungen, mit denen Oliver Graf zu Beginn jeder Saison interessante Akzente im Spielplan setzt. Seit 2020 ist er Intendant des tfn und überzeugte gleich in seiner ersten Spielzeit mit einem „Räuber“-Schwerpunkt: Schillers Drama, die Oper „I briganti“ von Saverio Mercadante (1795-1870) und eine Choreografie von Marguerite Donlon. Alle drei Sparten verwendeten dabei dasselbe Bühnenbild. Presseecho und Besucherzahlen bestätigten trotz diverser Hürden (Stichwort Lockdown und Wasserschaden) den Erfolg dieses Konzeptes, deren einzelne Produktionen nicht nur an jeweils eigenen Abenden zu erleben waren, sondern in geballter Form auch an einem besonderen Thementag. Grund genug, mit der Medea-Trilogie diesen Weg nun weiter zu beschreiten.

Verbindendes Element der drei „Medea“-Produktionen: das Bühnenbildmodell von Anna Siegrot

Oper, Schauspiel, Tanz

Die über den Tag verteilten drei Bühnenproduktionen zeigen, dass das TfN mit seinen Ensembles zu hohem künstlerischem Niveau in der Lage ist. Alle Vorstellungen spielen wieder im selben Bühnenbild, das diesmal Anna Siegrot als vielfach verwendbares Gerüst entworfen hat. Transparente Vorhänge bieten räumliche Variationen an. Und auch die Kostüme folgen einem gemeinsamen ästhetischen Gedanken: Die Farben der korinthischen Hofgesellschaft, in der sich das Drama abspielt, sind kühl und metallisch. Medeas Fremdheit in dieser Umgebung wird mit Rot, Braun und Erdfarben ausgedrückt. Spannend zu erleben, wie unterschiedlich die drei Produktionen mit diesem gemeinsamen Bühnenkonzept umgehen.

Marguerite Donlon und Marioenrico D’Angelo entwerfen mit ihrem Donlon Dance Collective eine in sich schlüssige Choreografie mit einer faszinierenden Fülle von immer neuen Ausdrucksformen zwischen klassischem und zeitgenössischem Tanz. Medea (Dana Pajarillaga!) ist hier eine von der Stadtgesellschaft vertriebene Fremde, die Mitgefühl und Verständnis verdient. Die italienische Musikerin Federica Cino komponierte dazu eine neue Musik, teilweise unmittelbar unter Probeneindrücken entstanden. Damit grundiert mit ihrer assoziativ gebauten Klangwelt das Geschehen hintergründig, abgründig und ab und zu auch vordergründig. „Sie hat mit ihrer Musik für die Inszenierung wirklich eine neue Welt eröffnet“, sagt Choreograf Marioenrico D’Angelo über die Zusammenarbeit.

Choreografierter Mythos: Dana Pajarillaga (Medea) und David Pallant (Jason) (Foto Tim Müller)

Mit der Medea-Oper von Giovanni Pacini (1796-1867) bringen GMD Florian Ziemen und Regisseurin Beka Savić eine Rarität bester Belcanto-Tradition als deutsche Erstaufführung auf die Bühne. Die Partitur wird von einer überraschend farbigen Instrumentierung bestimmt. Melodien, die dem emotionalen Ausdruck des Textes folgen, harmonische Entwicklungen sowie rhythmische Vielfalt machen diese Oper zu einem Kunstwerk. Stimmlich ist durchweg qualitätsvoller Gesang zu hören. Herausragend dabei Robyn Allegra Parton als Medea. Es muss in der Tat nicht immer Verdi sein.

Und dann das Schauspiel. Zusammengesetzt ist es aus Teilen der Medea-Version von Pierre Corneille (1606-1684), Abschnitten des Euripides-Dramas und eigenen Texten des Ensembles. Regisseurin Asli Kişlal lässt ihre Medea dabei zum Symbol für starke Frauen der Geschichte werden, die sich für Gerechtigkeit und Liebe einsetzen. Alle aber scheitern an der von Männern bestimmten brutalen Realität. Linda Riebau hat mit einem kämpferisch intonierten, fast 50-minütigen Monolog ihren großen Auftritt in der Titelrolle.

Corneille trifft Euripides trifft eigene Ensemble-Texte: Linda Riebaus Medea im Schauspiel (Foto Tim Müller)

Festival-Atmosphäre mit Maria Callas

Darüber hinaus gibt es noch die überraschende Begegnung mit Maria Callas als Medea. Der im gleichen Gebäudekomplex residierende Thega-Filmpalast bringt nämlich Pasolinis geheimnisvollen Medea-Film von 1969 mit der großen Primadonna in der Hauptrolle in das Tagesprogramm ein. Die Callas agiert hier als überwiegend schweigende Schauspielerin. Die Kamera konzentriert sich dabei immer wieder in Großaufnahmen auf ihr Gesicht und die Sprache ihrer Augen. Das hinterlässt neben den faszinierenden Naturbildern und den teilweise verstörenden mythischen Riten einen so starken Eindruck, dass dahinter die Erlebnisse aus Oper, Schauspiel und Ballett zu verblassen drohen. Obwohl diese live wirklich auf hohem Niveau gespielt, gesungen und getanzt werden.

Wer den ganzen Tag dabei bleibt, kann neben den Bühnenaufführungen noch anderes erleben. So trifft man sich zwischen den Vorstellungen zu Podiumsdiskussionen, Einführungen, Nachgesprächen, Führungen durch Werkstätten und kann an einem Tanz-Workshop teilnehmen. Sonderangebote benachbarter Gastronomie und Getränke an Stehtischen unter alten Bäumen vorm Theater schaffen bei herbstlicher Sonne kommunikative Festival-Atmosphäre.

Ausstellungseröffnung (Foto Toni Rack)

Hildesheim wurde zwar nicht Kulturhauptstadt 2025, worum man sich mit einem ausgefeilten innovativen Konzept beworben hatte. Gleichwohl ist diese Stadt und ihre Region aber immer eine Kultur-Reise wert. Auch, weil hier kreatives und qualifiziertes Theater lebendig ist.