Magdeburgs Generalintendantin Karen Stone geht in den Ruhestand. Oder doch nicht?
von Claus-Ulrich Heinke
„Ich werde heulen bis zum Gehtnichtmehr“, prophezeit Karen Stone ihre Gefühle, die sie beim Abschied als Generalintendantin des Magdeburger Theaters erwartet. Zwar liegt noch fast die ganze aktuelle Spielzeit vor ihr. Aber der Weggang wirft bereits erste Schatten und macht neugierig auf persönliche Rückblicke.
12 Jahre lang lenkte sie in der Hauptstadt Sachsen-Anhalts die Geschicke eines Vier-Sparten-Hauses, verantwortlich für 440 Festangestellte in Oper, Ballett, Schauspiel und Konzert. „Ich liebe dieses Theater und diese Stadt“, schwärmt sie – immer mit einem Lächeln im Gesicht. Obwohl ihr Deutsch perfekt ist, verrät ein leichter englischer Sound in der Stimme auch nach vielen Jahren die Herkunft von der britischen Insel. „Als ich 2009 hierherkam, fühlte ich mich sofort willkommen. Vom Theater wie von der Verwaltung und Politik.“ Die vier vorangegangenen Jahre verbrachte Stone in Dallas, wo sie mit dem Stararchitekten Foster eine neue Spielstätte planen und die ertragreiche amerikanische Sponsorenmentalität kennenlernen konnte. „Spannend war dort auch, dass wir als Oper immer aktiv dabei waren, wenn die Stadt sich präsentierte, um neue bedeutende Unternehmen in die Region zu locken.“ Trotz aller künstlerischen Erfolge, einem Angebot zur Vertragsverlängerung und Unterstützung durch das Management litt sie zunehmend unter dem sehr kommerziell orientierten „Star-System“ in den USA. Und das subtropische Klima der Stadt machte ihr zu schaffen. „Irgendwann hatte ich Sehnsucht nach einem spürbaren Wechsel der Jahreszeiten und vor allem nach einem nachhaltigen Ensemble-Theater.“ Beides erhoffte sie sich von Magdeburg, bewarb sich und setzte sich gegen fünf Bewerber durch. Seitdem bringt sie nun jeden Tag, konzentriert und voller Begeisterung, die reichen Erfahrungen ihres bisherigen künstlerischen Lebens hier ein.
Schellack, Mrs. Lloyd Webber und das Royal Opera House
Und das begann in England. 1952 wurde Karen Stone in Horsforth (Yorkshire) geboren, in London Chelsea wuchs sie gemeinsam mit ihrer Schwester in einem an Kultur interessierten englischen Elternhaus mit – wie sie es nennt – kosmopolitischer Weite auf. „Chelsea war eine Ecke, in die damals die gesamte Welt wollte, ein Pilgerort für junge Menschen“, erzählte sie vor einigen Jahren auf die Frage nach Ihrer Jugendzeit. „Dort zu leben war ein großer Luxus, den ich sehr genoss. Wir waren am Anfang einer Bewegung, in der junge Menschen erstmals Geld in ihren Taschen hatten. Wir konnten rausgehen in eine fantastische, vibrierende Clubszene mit toller Musik und Open-Air-Konzerten. Damals in London gewesen zu sein, war herrlich.“ Zu Hause hatten die Familie eine umfangreiche Schallplattensammlung, noch mit 78er-Schellackscheiben. „Da habe ich mit elf Jahren Wagners ganzen ‚Ring‘ angehört. Das war ein riesiger Stapel von Platten. Und ich war begeistert.“
Später kam der Wechsel auf eine französische Schule. „Da wuchs mein Interesse an Inszenierungen und ich leitete bei Schulaufführungen meine ersten Produktionen.“ Bald danach absolvierte die junge Künstlerin ein solides Musikstudium mit den Schwerpunkten Klavier und Gesang. „Theorie hatte ich übrigens bei Mrs. Lloyd Webber, der Mutter des berühmten Musical-Komponisten. Daneben war Praxis in Chor, Orchester, Schauspiel und Oper Pflicht. Das brachte einen breiten Fundus an frühen Erfahrungen.“ Folgerichtig landete sie mit ihrem ersten Engagement dann auch beim Stadttheater Hagen im Opernchor – mit Soloverpflichtungen. „Aber bald saß ich als Regieassistentin mehr im Saal neben der Regie als aktiv auf der Bühne zu spielen“, erzählt sie lachend. Eine Weichenstellung für ihren weiteren Karriereweg könnte man das nennen: Es folgten Regieassistenzen in Freiburg und London, Engagements als Spielleiterin an der Royal Opera London und der Staatsoper München, die Operndirektion in Köln und die Generalintendanz in Graz. Und immer ist sie auch weltweit freiberuflich als Regisseurin unterwegs.
„Das Royal Opera House Covent Garden in London war meine wichtigste Station. Ich erlebte zum ersten Mal Spitzensänger, die mit den weltbesten Dirigenten Werke in höchster Qualität verwirklichten. Ich musste Wiederaufnahmen mit Sängern wie Plácido Domingo einrichten. So etwas war eine große Freude und gab mir Maßstäbe für mein ganzes weiteres Theaterleben.“
Starkes Ensemble, starkes Programm
All diese Erfahrungen kommen bis heute nicht zuletzt dem Theater Magdeburg zugute. Ihre Opernspielpläne entwickelt sie dabei immer ausgehend von den Stimmen der Sängerinnen und Sänger des Hauses. „Ich baue erst ein Ensemble auf und sehe dann, welche Möglichkeiten sich daraus ergeben. Das hat sich bewährt, vor allem bei den jüngeren Mitgliedern. Wie oft wird es umgekehrt gemacht und junge Stimmen ohne Rücksicht auf ihre Entwicklung eingesetzt. Da werden Künstlerinnen und Künstler zerstört, bevor sie sich überhaupt entfalten konnten. Schrecklich.“
Hier bewährt sich, dass die Intendantin aus eigener Erfahrung weiß, was Singen bedeutet. Kritisch sieht sie, wenn junge Stimmen oft ohne ausreichend praktisches Training in ihr erstes Engagement kommen. Etwas, das in ihren Augen vor allem für deutsche Hochschulen gilt. „Singen ist wie Leistungssport und erfordert auch intensives körperliches Training. Täglich. Da ist die sängerische Ausbildung in anderen Ländern weiter als hier bei uns.“ Trotzdem: Sie schwärmt von den vielen begabten jungen Sängerinnen und Sängern, mit denen sie zusammenarbeiten durfte. „Es war wunderbar mit ihnen. Und viele singen heute an den ganz großen Häusern Europas und der Welt. Gerade für diese Art von Ensembletheater blutet mein Herz. Ich liebe es.“
Die Qualität ihres Ensembles ist sicher einer der Bausteine, aus denen Karen Stone den Erfolg des Theaters Magdeburg baute. Mit einem geschickten Aufbau der Spielpläne zwischen Tradition und Moderne erreichte sie dazu eine Auslastung des Hauses von 85% – das Theater schrieb sogar schwarze Zahlen. Mit Freude blickt sie auf Werke wie von Einems „Dantons Tod“, die deutsche Erstaufführung der Philip-Glass-Oper „Der Prozess“ oder „Vanessa“ von Samuel Barber zurück. „‚Vanessa‘ ist ein wunderbares Werk. Ich liebe es. Ich kenne diese Musik seit meiner Jugend und habe mich sehr gefreut, dieses selten gespielte Stück selbst auf die Bühne zu bringen.“
Der Intendantin ist es wichtig, bei zwei oder drei Produktionen pro Spielzeit auch selbst Regie zu führen – von jedem dieser Werke kann sie mit Begeisterung erzählen. „Ich liebe einfach die Oper.“ Und es gibt doch ein paar ganz besondere „Lieblinge“ in der langen Reihe ihrer Inszenierungen: die Da-Ponte-Opern Mozarts („Le nozze di Figaro“, „Così fan tutte“ und „Don Giovanni“). „Herrliche Melodien, rasante Rezitative und musikalische Durchdringung der Beziehungs-Psychologie in der Partitur – all das macht diese Opern zu Höhepunkten meiner Regie-Arbeiten.“ „Figaro“ und „Così fan tutte“ sind bereits Geschichte, die dritte Oper im Bunde, „Don Giovanni“, hat sich Karen Stone für den Abschied aus Magdeburg aufgehoben.
Solche Opern erfordern neben dem schönen Gesang auch darstellerische Fähigkeiten bei allen Beteiligten. Vor allem, wenn es von der Regie ausgeprägte Konzeptionen gibt. „In den letzten Jahren hat die schauspielerische Qualität der Sängerinnen und Sänger enorm zugenommen. Das ist toll, aber man darf nie die sängerischen Notwendigkeiten aus dem Blick verlieren. Dazu gehört der freie Atem und ein entspannter und zugleich konzentrierter Fokus auf den Stimmklang.“
Strategin mit Herz, Verstand – und Excel
Neben den ästhetischen Fragestellungen einer Opernproduktion stellt sich Karen Stone auch immer die Frage nach der Relevanz eines Theaters für die Stadtgesellschaft. „Kunst und Kultur sind für die Entwicklung einer Stadt bedeutungsvoll. Sie tragen zur Identität der Stadt bei und sind auch noch in anderer Hinsicht zu 100% relevant: Wir Menschen sind soziale Wesen, für die Gemeinschaft lebensnotwendig ist. Das Theater bietet dafür elementare Erfahrungen an. Jetzt bei der allmählichen Öffnung nach dem Lockdown erlebten wir einen Run auf die Karten, als wäre ein Damm gebrochen.“ Mit Enthusiasmus erzählt sie von diversen Vermittlungsprogrammen, durch die Kinder und Jugendliche ans Theater herangeführt werden. Wie an vielen Häusern ist auch in Magdeburg die Theaterpädagogik fest im Stellenplan verankert.
Dass Verwaltung und Politik des Landes und der Stadt auf ihrer Seite stehen und den Fortbestand des Theaters nicht infrage stellen, hat auch mit der offenen, klaren und zugleich verbindlichen Art ihrer Kommunikation zu tun. Und sicher auch mit ihrem positiven Blick auf die Stadt: „Ich spüre eine spezielle Energie in Magdeburg, einen zukunftsorientierten Erfolgskurs.“ Aus diesem Geist heraus bat die Stadt Magdeburg die Intendantin, ihren Vertrag noch einmal zu verlängern – bis zu deren 70. Geburtstag. Man bewarb sich um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2025. Dazu Oberbürgermeister Lutz Trümper: „Frau Stone ist sehr engagiert in die Vorbereitung der Bewerbung eingebunden. Wir wollen sie in der entscheidenden Phase weiter an unserer Seite wissen.“ Zwar erfüllten sich die Hoffnungen der Stadt letztendlich nicht, aber die Einbindung des Theaters in die Bewerbung vertiefte einmal mehr die Beziehungen zur Stadtgesellschaft.
In Zeiten, die für viele katastrophale Krisen auslösten, behielt Karen Stone einen kühlen Kopf und verlor nie die Kontrolle über die Abläufe an „ihrem“ Theater. Ein Charakterzug, der ihr nicht zuletzt in der Pandemie viel öffentliche Anerkennung einbrachte. „Ich hasse Krisen. Sie sind oft nur Ausdruck einer unpräzisen Planung. Ich möchte nicht, dass mir das passiert.“ Sie lächelt vielversprechend: „Im Übrigen bin ich Königin von Excel-Tabellen.“
Mit der gleichen Klarsicht hat sie bereits jetzt die Zeit nach dem Abschied aus Magdeburg präzise geplant. Gemeinsam mit ihrer Schwester wird sie in Frankreich ein neues Haus mit großem Waldgrundstück beziehen. „Ich liebe die englische Literatur und Philosophie, die deutsche Musik und das französische Essen. Aber es wird in Frankreich nicht nur das Essen sein. Unser Haus liegt in der Nähe der Loire-Schlösser. Da gibt es ein kleines Festival, zu dem schon Verbindungen bestehen. Da möchte ich mehr einsteigen und es weiter voranbringen.“ Wer also geglaubt hat, dass Karen Stone ihrem geliebten Theaterberuf entsagt, wird eines Besseren belehrt. Und wer die Entwicklung des Magdeburger Theaters in der „Stone-Zeit“ betrachtet, weiß, dass man von diesem Loire-Fest sehr bald auch international hören wird. Jetzt schon ist sich die Generalintendantin aber sicher: „Am Ende des Tages – und das sage ich sehr bewusst – sind die Jahre in Magdeburg die besten für mich gewesen.“
Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2021