Großformatig mit Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ eröffnet das Staatstheater Meiningen die Spielzeit. Als das Werk 1920 zeitgleich in Köln und Hamburg uraufgeführt wurde, war Korngold gerade mal 23 Jahre alt. In Deutschland endete seine Karriere zwar mit dem zur Staatsdoktrin gewordenen Rassenwahn der Nationalsozialisten. In Hollywood jedoch widmete er sich mit einigem Erfolg der Entwicklung der Filmmusik.

In der morbiden „toten Stadt“ Brügge kommt Paul nicht über den Tod seiner Ehefrau Marie hinweg. Er hat sich in einer „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet, ihr Bild und eine Haarsträhne zum Altar erhoben. Wolf Gutjahr übersetzt das düster Gruftige dieser Atmosphäre auf der Drehbühne in ein schmuckloses Labyrinth aus schwarzen Stellwänden. Diverse Leuchtröhrenumrahmungen deuten in ihrem exzessiven Farbwechsel auf das Changieren zwischen Traum und Wirklichkeit. Da Pauls Zufallsbekanntschaft Marietta seiner Marie verblüffend ähnelt, lädt er das Temperamentsbündel in Weiß zu sich ein. Aber er sieht in ihr nicht die lebenslustige Künstlerin und Frau, sondern eine Reinkarnation der Verstorbenen. Der Regisseur Jochen Biganzoli lässt die tote Marie und die lebende Marietta direkt aufeinandertreffen, was zu einem handfesten Kampf eskaliert. Lena Kutzner verkörpert die temperamentvolle Marietta, und der erstklassige Charles Workman steht als ihr Paul auf der Bühne.

Als sich Marietta über den Kult mit den als Reliquie aufbewahrten Haaren der Toten lustig macht, stürzt sich Paul auf seine neue Bekanntschaft und erwürgt sie. Doch es scheint nur so, denn dieser Mord ist der Höhepunkt eines Alptraumes mit heilsamer Wirkung. Als Paul auf dem Sofa wieder erwacht, taucht Marietta quicklebendig erneut bei ihm auf, denn sie hat ihren Schirm und ihre Rosen vergessen… Ein Traum mit Mord hat ihm den Traum von der Wiederkehr der Toten zerstört – so resümiert Paul das Geschehen und Korngold seine Oper. Diesen psychologisierenden Exkurs in Sachen Traumabewältigung erweitert Biganzoli noch vor Beginn der Oper durch einen Film, samt des zusätzlichen Korngold-Satzes „Lento religioso“ aus der „Sinfonischen Serenade“. Der junge Paul im Film, der sich von seiner bei einem Autounfall verunglückten Frau in der Pathologie verabschiedet, findet letztlich keinen Ausweg aus der Leere. Während sich für den Paul der Oper die Option einer Rückkehr ins Leben eröffnet, erschießt sich der Paul im Video in einem wogenden Kornfeld.

Am Pult der Hofkapelle sorgt Chin-Chao Lin für den schwelgerischen Überwältigungston, den diese Musik braucht. Auch jede kleinere Rolle ist vorzüglich besetzt. Ganz gleich ob zum ersten Mal oder als Wiederbegegnung – „Die tote Stadt“ ist auch in Meiningen ein Hörerlebnis.

Roberto Becker

„Die tote Stadt“ (1920) // Oper von Erich Wolfgang Korngold

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Meiningen