Oberflächliche Effekthascherei kann man dieser lange unterschätzten französischen Grand opéra wahrlich nicht unterstellen – und wer die vier Stunden reine Spielzeit überstanden hat, weiß ein Lied davon zu singen. Ganze 67 Jahre dauerte es von der ersten – ursprünglich auf zwei Abende verteilten Aufführung – bis zur kompletten Premiere an einem Abend im Londoner Covent Garden. An jenem 6. Juni 1957 war Hector Berlioz bereits 88 Jahre tot, die posthum attestierte Würdigung seines Spätwerks war ihm zu Lebzeiten versagt geblieben.

Man kann davon ausgehen, dass diese Neuinszenierung der Oper Köln (Regie: Johannes Erath) dem Komponisten gefallen hätte. Alle Fäden laufen bei Generalmusikdirektor François-Xavier Roth und dem (herausragenden!) Gürzenich-Orchester Köln zusammen, die während des ganzen Abends auch optisch kreisrunder, ebenerdiger, am Ende sogar drehbarer Mittelpunkt der Bühne sind. Roth und sein Orchester „inszenieren“ das Werk quasi aus der Komposition heraus, legen durch perfektionierte Detailarbeit und schnörkellosen Klang selbst die verborgensten Finessen der Komposition offen. Hier wird nichts verwischt, romantisiert oder übertüncht. Beinahe barock (fast ohne Vibrato in den Streichern!) kommen die einzelnen Phrasen daher – noch dazu im Höllentempo. Es gelingt der beeindruckende Spagat zwischen betörend geradem Klang und überbordendem Ausdruck. Perfekter Sparringspartner: der große, klangstarke und spielfreudige Kölner Opernchor, der trotz darstellerischer Herausforderungen selbst aus dem Off, von hinten, von oben oder aus Nebenräumen nichts von seiner Textverständlichkeit einbüßt. Was jetzt noch fehlt zum musikalischen Großereignis, ist eine dreißigköpfige Riege ausdrucksstarker Gesangssolistinnen und Solisten, die als Menschen und Götter die Szene bevölkern. Auch hier überzeugt die Kölner Produktion mit homogener Ensemble-Leistung ohne Ausfallerscheinungen. Stellvertretend hervorgehoben seien die beiden herausragenden Damen Isabelle Druet (Cassandre) und Veronica Simeoni (Didon).

Und die Bühne? Es ist der große und mutige Regie-Wurf dieser offensichtlich kollegialen, werksbezogenen Teamarbeit, dass Johannes Erath und sein Team (Bühne und Kostüme: Heike Scheele) auf klassische Guckkasten-Szenerie verzichten. Selten war weniger mehr als hier, vermeintliche Einschränkungen des Interims werden zum Glücksfall, und gerade dieses Werk profitiert enorm von solch individueller Bühnenraumgestaltung. Fast halbszenisch und mit fantasievoller Kostümierung wird das starke Musik- auch zum Theaterspektakel. Vorhandene Längen (vor allem im Mittelteil) rücken dezent in den Hintergrund – der durchgehende Ansatz pasticcioartig inszenierter Einzelszenen lässt optische Langeweile erst gar nicht aufkommen. Frei nach dem Motto „Jeder bekommt das Häppchen seiner Wahl“ spielt sich das Geschehen auf der kreisrunden, beleuchteten und drehbaren Catwalk-Bühne rund ums Orchester ab wie auf einem Running-Sushi-Band.

Selbst wer zu Beginn noch überrumpelt war ob dieser „verkehrten“ Opern-Welt, wird am Ende zugeben: Klippen bestmöglich umschifft, Längen überwunden, aus der Not eine Tugend und vor allem – alles richtig gemacht. Bravo Köln!

Iris Steiner

„Les Troyens“ (1890) // Poème Lyrique von Hector Berlioz

Infos und Termine auf der Website der Oper Köln