„Unübersetzbar“ oder „zu amerikanisch für das deutsche Publikum“: Argumente, die im Vorfeld der deutschen Erstaufführung von „Hamilton“ immer wieder gern geäußert wurden. Doch nach dem Jubel, den das Kultmusical aus der Feder von Lin-Manuel Miranda nun nach der Premiere im Hamburger Operettenhaus entfacht, muss wohl so mancher Skeptiker die weiße Fahne ausrollen. Sicher, die vor dem Hintergrund des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges erzählte Geschichte des Gründervaters Alexander Hamilton mag historisch gesehen jenseits des Atlantiks verortet sein. Doch Themen wie Familie, Freiheitsdrang und persönliche Ambitionen bieten auch über die unterhaltsam verpackte Geschichtsstunde hinaus reichlich Identifikationspotenzial.

„Hamilton“ ist ein Stück, das auf vielen Ebenen funktioniert und in jeder Hinsicht aus den klassischen Musical-Klischees ausschert. Statt großem Bühnenspektakel rücken hier voll und ganz die Charaktere selbst ins Zentrum. Wobei die historischen Figuren wie George Washington, Thomas Jefferson oder James Madison auch in Hamburg – wie zuvor bereits in der vielfach preisgekrönten Broadway-Produktion – bewusst multiethnisch gegen den Strich besetzt sind. Als Abbild unserer Lebensrealität und somit ganz am Puls der Zeit. Ähnlich divers ist auch das musikalische Spektrum, das von druckvollen R’n’B- und Hip-Hop-Nummern dominiert wird, aber auch Platz für emotionale Pop-Balladen hat und sich beim Auftritt des englischen Königs George III auch kurz vor den Beatles verneigt. Zu den Highlights zählen dabei aber unbedingt auch die auf dem Papier so trocken erscheinenden Kongress-Debatten, die Miranda als rhetorisch gepfefferte Rap-Battles umsetzt, durch die diese Lektion in Sachen amerikanischer Geschichte zu einem überaus kurzweiligen Nachsitzen wird. Denn auch die deutsche Übersetzung von Kevin Schroeder und Sera Finale fühlt sich durch und durch authentisch an und verleiht dem im Original mit zahlreichen Zitaten gewürzten Libretto durch clevere Verweise auf Fettes Brot oder Sabrina Setlur eine doppelte Staatsbürgerschaft.

Das allein würde freilich noch nicht ausreichen, gäbe es da nicht noch ein handverlesenes Ensemble, das diese Geschichte mit großem Engagement und ungezügelter Energie auf die Bühne bringt. Angeführt von Titelheld Benét Monteiro und Gino Emnes in der Rolle seines politischen Gegners Aaron Burr. Ein starkes Duo, das hier jedoch keine klischeehaften Stereotypen verkörpert, sondern die Grenzen zwischen Held und Antiheld immer wieder verschwimmen lässt. Umrahmt von zahlreichen kleinen Charakterstudien wie Charles Simmons, der George Washington väterliche Autorität verleiht, oder Chasity Crisp, die als innerlich zerrissene Angelica Schuyler zugunsten ihrer Schwester die eigenen Gefühle für Hamilton unterdrückt, ehe auch bei ihr die Emotionen in einer stimmstarken Performance herausbrechen.

„Hamilton“ zeigt eindrucksvoll, was Musical im 21. Jahrhundert abseits der gängigen Klischees auch sein kann. Bleibt zu hoffen, dass das Publikum dieses Wagnis mit der entsprechenden Neugier belohnt.

Tobias Hell

„Hamilton – Das Musical“ (2015) // Musical von Lin-Manuel Miranda in der deutschen Übersetzung von Kevin Schroeder und Sera Finale

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