Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2023) Verdis „Don Carlo“ in der Rittersaal-Ruine
Als Verdi seinen „Don Carlos“ für Paris konzipierte, tat er dies durchaus im Bewusstsein, dass Giacomo Meyerbeer gestorben war und folglich eine Leerstelle in Sachen Grand opéra gefüllt werden könne. Man sollte, muss das mitdenken, wenn die sommerlichen Opernfestspele Heidenheim im Rittersaal von Schloss/Burg Hellenstein diese Vertonung des Schiller-Stoffes aufs Programm setzen. Zwar spielen und singen dort die Stuttgarter Philharmoniker sowie der Tschechische Philharmonische Chor Brünn die spätere italienische Fassung dieser so privaten wie politischen Tragödie (also kein Fontainebleau-Akt und kein großer Balletteinschub), doch damit wird der zu erhebende künstlerische Anspruch grundsätzlich ja nicht wirklich geringer.
Und so setzt durchaus Staunen darüber ein, dass in einer Opernhaus-losen 50.000-Seelen-Kreisstadt große Oper in einer vokalen und orchestralen Güte geboten wird, die allemal derjenigen kleinerer Staatstheater vergleichbar ist – und so manchem Stadttheater gar überlegen. Man kann sogar noch eins draufsetzen: Indem Marcus Bosch, der künstlerische Leiter und Dirigent, von Orchester und Chor hohe Transparenz und Zurückhaltung bei musikalischen Eruptionen verlangt, bleibt alles, ohne jegliche elektrische Verstärkung (!), differenziert vernehmbar – und das Vokale stets im Vordergrund. Da muss sich keiner regelmäßig verausgaben, um Effekt zu machen oder den Graben zu übertönen.
Mögen auch Pavel Kudinov als uniformierter König Philipp II. sowie Randall Jakobsh als eine Art Folterknecht-Großinquisitor noch eine Spur mehr an autoritärer Durchschlagskraft vertragen, so betören bei der Premiere Sung Kyu Park mit freiem hohem Tenor in der Titelrolle, Ivan Thirion als in jeder Hinsicht entschlossener Rodrigo, Leah Gordon als bemitleidenswerte Schmerzensfigur Elisabeth und – vor allen – Zlata Khershberg als Eboli mit einem so beweglichen wie substantiellen Mezzo.
Darüber hinaus gelingt Georg Schmiedleitners Inszenierung im Bühnenbild von Stefan Brandtmayr insofern eine Quadratur des Kreises, als sie unter einem zerbrochenen Peace-Zeichen geschickt vermittelt zwischen (einer etwas konventionellen) Werktreue und moderater Neudeutung des Werks. Zeitlupen-Gänsemärsche des Chors und dessen etwas steife symmetrische Aufstellung hernach gehören – einerseits – ebenso dazu, wie – andererseits – so mancher Verweis auf eine behauptete Überzeitlichkeit des Stoffes: etwa durch die „Abu-Ghraib“-Folterung politischer Häftlinge, das Nebeneinander historischer und zeitgenössischer Kostüme (spanische Halskrause versus silberbeschichtete Lederjacke) oder laufende Bildschirme eines Überwachungsstaats. Gewünscht ist erkennbar mehr denn lediglich große Oper als Augen- und Ohrenschmaus.
So beweist Heidenheims „Don Carlo“, dass diese Festspiele auch deutlich mehr sind als liebenswert und ehrgeizig. Und wenn sich dann noch die Nacht über die gen Himmel offene Rittersaal-Ruine senkt, dann kommt da noch die gebotene düstere „Don Carlo“-Stimmung hinzu. Und musikalischer Zauber.
Rüdiger Heinze
„Don Carlo“ (1867/84) // Oper von Giuseppe Verdi
Infos und Termine auf der Website der Opernfestspiele Heidenheim