St. Margarethen / Oper im Steinbruch (Juli 2023) Eine cineastische „Carmen“ versinkt im Regen
Sie überlebt. Und 5.000 Menschen versinken klatschnass zwischen Regenmassen und Sturmböen – High Heels im Schlamm, Regencape statt Abendgarderobe. Der launische burgenländische Wettergott meint es nicht gut mit Georges Bizets Oper im stillgelegten Römersteinbruch St. Margarethen, die Premiere muss in der Pause abgebrochen werden. Für Teil 2 bleibt nur die vom ORF mitgeschnittene Generalprobe vor dem Fernseher – kein Vergleich zum Cinemascope-Format der großen Freilichtbühne. Gut, dass die ersten beiden Akte also noch live vermitteln können, was sich Regisseur Arnaud Bernard mit seinem Team ausgedacht hat: eine Verneigung vor dem Phänomen „‚Carmen‘, die meistverfilmte Oper der Welt“.
Die Rahmenhandlung bildet ein Hollywood-Filmstudio der 1950er Jahre, gedreht wird hier ein im Spanischen Bürgerkrieg der 1930er verorteter „Carmen“-Streifen mit der Titelrolle im politischen Widerstand gegen das Franco-Regime. Alessandro Camera hat dafür ein Bühnenbild von gigantischen Ausmaßen vor die natürliche Felsenlandschaft wuchten lassen: sechs rostrote Stahl-Drehbühnen von bis zu elf Metern Höhe und mit einem Gesamtgewicht von mehr als 70 Tonnen, die sich je nach Bedarf in die klassischen Szenenbilder verwandeln.
Davor wuselt es von Kameraleuten, Statisten und Stuntdoubles, durch ein Megafon wird immer wieder „Position!“, „Action!“, „Cut!“ gerufen. Überraschenderweise stört das den musikalischen Fluss nicht wirklich, vielmehr wird die Opéra-comique-Nummerndramaturgie betont – bei einem Werk mit derartiger Hitdichte ein durchaus gangbarer Weg. Aber, weit wichtiger: Die Konventionen in Bizets Evergreen werden als solche bewusst herausgestellt. Exotismus-Klischees, sexistische Stereotype und andere nach heutigen Maßstäben aus der Zeit gefallene Bilder? In der goldenen Ära des Films noch gang und gäbe. Oft weiß man gar nicht, wohin man schauen soll, wenn sich auf der extrem breiten Bühne zwei bis drei Handlungen mit innerem Bezug parallel abspielen – eine detailreich durchdachte, lustvolle Überforderung für das Auge mit ins Zeitkonzept passenden Kostümen (Carla Ricotti) und einer dynamischen Stuntchoreografie (Ran Arthur Braun).
Aber auch für das Ohr wird einiges geboten, speziell auf Solistenseite. Brian Michael Moore gibt einen jugendlichen Don José mit empfindsamem Schmelz, Vanessa Vasquez eine Micaëla voller samtener, inniger Hingabe und Vittorio Prato einen klangsatten Escamillo. In zweiter Reihe überzeugen der kernige Zuniga von Mikołaj Bońkowski und die soliden stimmlichen Leistungen von Aleksandra Szmyd (Frasquita) und Sofia Vinnik (Mercédès), während Marco Di Sapia und Angelo Pollek als Schmugglerduo Dancaïro und Remendado etwas konturlos bleiben (ebenso wie der seltsam blutleer klingende Philharmonia Chor Wien unter Leitung von Walter Zeh). Übertrumpft werden sie alle ohnehin von Joyce El-Khoury. Die libanesisch-kanadische Sopranistin stellt mit schicksalstrunkener Tiefe, enormer Ausstrahlung und hintergründiger Erotik nachdrücklich unter Beweis, warum die Carmen auch gerne Vertreterinnen ihres Stimmfachs anvertraut wird. Die Habanera bestreitet sie allerdings noch im Aufwärmmodus – was aber auch Valerio Galli anzulasten sein könnte, der das Piedra Festivalorchester mehrfach geradezu durch die Partitur hetzt. Ein Zügeln der Tempi speziell im ersten Teil würde der orchestralen Untermalung mehr als guttun, ansonsten vernimmt man aber ein sehr energetisches und differenziertes Klangbild.
Der Verrat von Carmens Widerstandsgruppe an das Franco-Regime, der folgende Massenmord vor der Stierkampfarena, der Tod Carmens durch Don Josés Hand – all das erlebt man zwar nur zuhause am kleinen Bildschirm, wo die großformatigen Simultanszenen einiges an Wirkung verlieren (und weshalb sich eine wirkliche Kritik hierzu auch verbietet). Eines aber kann der burgenländische Wettergott nicht wegspülen: den Eindruck einer Freilichtproduktion im besten Sinne.
Florian Maier
„Carmen“ (1875) // Oper von Georges Bizet in der Fassung mit nachkomponierten Rezitativen von Ernest Guiraud