Dröhnende Panzer, rotierende Hubschrauber, im Gleichschritt marschierende Soldaten: Nicht zufällig entstehen solche Bilder beim Hören der feinnervig austarierten Partitur, die Bernhard Gander (*1969) zur Eröffnung der diesjährigen Münchener Biennale (in Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin) komponiert hat. „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ heißt denn auch die Uraufführung auf ein Libretto des ukrainischen Lyrikers und Autors Serhij Zhadan (*1974). Dieser zählt seit Jahrzehnten zu den prägenden Stimmen der osteuropäischen Literaturszene. Was er an diesem Abend in der Muffathalle sprachgewaltig entfesselt, ist die Rückkehr in ein Dunkel, das aus westlicher Distanz (zu) lange verdrängt wurde: „Osteuropa gleicht einem Fegefeuer.“

Mit „Good Friends“ ist das von Daniel Ott und Manos Tsangaris kuratierte Festival für neues Musiktheater 2022 überschrieben. Wie zynisch aktuell ihr Auftragswerk zum russisch-ukrainischen Verhältnis über Nacht auch werden sollte: Was Zhadan und Gander hier lange vor dem 24. Februar geschaffen haben, ist weit mehr als ein flüchtiger Kommentar unter vielen. So oft zeitgenössische Kompositionen in die Kategorie „Eintagsfliege“ fallen, so sehr ist zu hoffen, dass den „Liedern von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ ein nachhaltigeres Bühnenleben beschieden ist. Nicht zuletzt deshalb, weil das Werk auf „einfache“ Antworten verzichtet. Das Niemandsland, in dem die exemplarische Geschichte von Krieg, Vertreibung und Flucht verortet ist, gerät zur Projektionsfläche für Geschichtsklitterung, Zivilisationskritik, Grenzen im Kopf: „Das Problem ist nicht, dass sie fremd sind. Das Problem ist, dass sie anders sind.“

„Hier ist Krieg, schon gehört?“, ist auf der tristen Wellblech-Landschaft im Hintergrund zu lesen. Die Produktion spielt in einem „Passkontrollbereich am Grenzübergang eines osteuropäischen Landes“. Ein Autowrack, darüber der fahle Mond, uniforme Kleidersäcke, ein Berg voller Rettungswesten direkt neben einer Mülltonne: Viel mehr ist nicht nötig, um diese Zone des Transits greifbar zu machen (Bühne: Theun Mosk, Kostüme: Anna Sophie Domenz). Der Mensch zählt nichts, geht unter in der anonymen Masse: „Der Nächste.“

Hier warten zwei Männer in einer Gefängniszelle auf die Abschiebung in ihre „Heimat“ samt dortigem Gerichtsverfahren, einer umherirrenden Frau in abgewetzter Winterjacke ist nichts geblieben als ihr Baby und die Erinnerung an eine Welt in Flammen. Zuhause sind sie schon längst nirgends mehr – unwichtig, woher sie kommen, gleichgültig, wohin sie gehen. Carl Rumstadt (Bariton), Andrew Robert Munn (Bass) und Antonia Ahyoung Kim (Sopran) verleihen diesen Namenlosen Kontur, verstehen den Balanceakt zwischen verstörend-poetischer Seelenschau und brennend-aufbäumender Verbitterung sensibel zu zeichnen. Nur folgerichtig, dass Expression vor Stimmschönheit geht – grandios unterstützt durch soghafte chorische Passagen, die das Leid der direkt Betroffenen ebenso einfangen wie die westliche Dekadenz und Selbstverlogenheit (intensiv angeprangert durch Schauspielerin Nadine Geyersbach). Diese Stärken weiß Regisseurin Alize Zandwijk zu deuten, deren Inszenierung die Kraft von Libretto und Musik dezent untermauert, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen.

Das ist auch gar nicht nötig angesichts eines zerklüfteten Klangbilds zwischen archaischer Wucht und elektronisch-psychedelischer Irritation, liedhafter Anmut und metallisch-rhythmisierter Überwältigung, das von fünf Instrumentalisten des Ensemble Modern unter Elda Laro über 100 pausenlose Minuten in Atem hält. Ein Stück Musiktheater, das den Finger in schmerzende Wunden legt: „Über dem goldenen Europa bricht der Morgen des letzten Tages an.“

Florian Maier

„Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (2022) // Musiktheater von Bernhard Gander (Komposition) und Serhij Zhadan (Libretto)