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Rezensionen 2022/04

Wunderwerk

Prag / Národní divadlo (Juni 2022)
Die Prager Oper stellt Schulhoffs „Flammen“ und sich selbst ins internationale Rampenlicht

Prag / Národní divadlo (Juni 2022)
Die Prager Oper stellt Schulhoffs „Flammen“ und sich selbst ins internationale Rampenlicht

Einsam wie die freie Seele des Don Juan hebt die Flöte an, auf dem „d“. Dem d-Moll des „Don Giovanni“ und des „Dies Irae“, minutenlang. Mehrere Geister singen bald um ihn herum, künden vom Ende der Liebesnacht, der Tag entzieht ihn seinen Verehrerinnen. Zweieinhalb Stunden später wissen wir: Dieser Don Juan wird nicht in die Hölle fahren, das wäre zu nett vom Tod, den hier Tone Kummervold dringlich, überlegen und begehrend (ja, auch Madame La Morte begehrt ihn!) singt. Don Juan muss auf ewig er selbst bleiben, für immer als Projektionsfläche für die Welt herhalten, für die Sehnsüchte aller Donna Annas nach unbedingter, lebensverändernder Liebe und für die der Komture dieser Welt nach innerer Freiheit und archaischem Schmerz bis zum Sterben. Er soll auf ewig in jedem von uns Nietzsches Hinterwäldler verscheuchen, auf dass unser Leben eine tiefere Bedeutung erhalte.

Lange hatte Erwin Schulhoff nach einem Stoff für seine erste Oper gesucht, die schon seine letzte werden sollte, auch er kam ja durch die Nazis um. Durch die Vermittlung von Max Brod hatte er im zwischenkriegsschwülen Prag der 1920er Jahre einen Don-Juan-Text von Karel Josef Beneš erhalten, für den er sofort Feuer fing. Die Umarbeitungen des Textes samt Brods Übertragung ins Deutsche sind eine eigene vertrackte Geschichte, der Komponist aber schuf eine Partitur, die in ihrer Meisterschaft zu den großen Opern des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss. Wie eine riesige Kammermusik-Orgel klingt sein Orchester, keine Stimme scheint unterzugehen oder entbehrlich, die Stile wechseln in einem fort zwischen Wagner, Jazz und Strawinsky und kreisen doch immer um das anfängliche „d“ der Flöte. Kein Zitat wirkt aufgesetzt, auch nicht die vielen aus Mozarts „Don Giovanni“, jeder Takt stammt unverkennbar vom Komponisten Schulhoff. Was für ein Schatz, den Intendant Per Boye Hansen da gehoben hat mit seinem Team an der Oper in Prag, im Rahmen der durch das Auswärtige Amt in Berlin kräftig unterstützten Reihe „Musica non grata“.

Und was für ein Team das ist! Der junge Dirigent Jiří Rožeň hebt das Orchester auf internationales Niveau, der ebenso junge Ukrainer Denys Pivnitskyi singt und spielt diese mörderische Partie des Don Juan mit schierer Kraft und stupender Figuren-Psychologie, dass es einem die Sprache verschlägt. Seine Landsfrau Victoria Khoroshunova glänzt in gleich mehreren Frauenrollen. Regisseur Calixto Bieito findet für die unerhörte Herausforderung, zweieinhalb Stunden Oper quasi ohne Handlung samt minutenlanger rauschhafter Orchesterpassagen zu bebildern, eine Umsetzung, die sich an seinem Lieblings-Surrealisten Luis Buñuel orientiert. Es ist die Dekonstruktion eines schwarzen Traumraumes, in den erst ein, dann immer mehr Charaktere eindringen, nach der Pause aus dem Schnürboden gar ein echter Leichenwagen, zu dem es Don Juan natürlich drängt. Aber sterben, wir hören’s nochmal im anrührenden Duett mit La Morte, wird er nicht, darf er nicht. Und das Orchester spielt darunter, als ob es kein Morgen gäbe. Die Prager Oper, zu Schulhoffs Zeit eines der relevanten Häuser in Europa, hat mit diesem wichtigen, fesselnden, rauschhaften „Flammen“-Abend in genau deren Kreis nachdrücklich angeklopft. Und „Musica non grata“ läuft ja noch zwei weitere Jahre …

Stephan Knies

„Plameny“ („Flammen“) (1932) // Musikalische Tragikomödie von Erwin Schulhoff

Infos und Termine:
-> Národní divadlo (Prag) (bis 26. November 2022)
-> Gastspiel beim Festival Janáček Brno (20. November 2022)

Sorbische Sage goes Steampunk

Gelsenkirchen / Musiktheater im Revier (Juni 2022)
Eine düster-schwere Uraufführung nach Preußlers „Krabat“

Gelsenkirchen / Musiktheater im Revier (Juni 2022)
Eine düster-schwere Uraufführung nach Preußlers „Krabat“

Nach dem großen Erfolg von „Klein Zaches genannt Zinnober“ kehrt die Berliner Band Coppelius, die Heavy Metal (Kammercore) auf Schlagzeug, Kontrabass, Cello und Klarinette spielt, zurück auf die Bühne des Musiktheaters im Revier (MiR). Gemeinsam mit dem Hamburger Komponisten-Kollektiv „Himmelfahrt Scores“ (Peter Häublein und Roman Vinuesa in Zusammenarbeit mit Jan Dvořák) und dem Dramatiker Ulf Schmidt schrieben sie als Gelsenkirchener Auftragswerk eine neue Oper nach Otfried Preußlers „Krabat“. Und sorgen damit für eine krachend betörend-verschwörende Premiere, teils Steampunk-gewandetes Publikum inklusive.

Zwölf junge Männer lernen in einer Mühle nicht nur das Müllerhandwerk, sondern auch die dunkle Kunst der Magie. Der gestrenge Meister schürt eine kalte Atmosphäre, doch Waisenjunge Krabat setzt sich durch und sein Talent als Zauberer lässt ihn bald in der Hierarchie nach oben steigen. Nun muss er sich entscheiden – für ein Leben als mächtiger Zauberer ohne Herz oder ein solches als einfacher Mensch mit einem reinen Gewissen … „Autor Otfried Preußler verarbeitete nicht nur eine sorbische Sage. Als Zeitzeuge des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus beschreibt sein Roman auch, wie sich Menschen in einem System der Unterdrückung verändern können“, so Dramaturgin Anna Chernomordik.

Ein opulentes Steampunk-Bühnenbild (Julius Semmelmann), stimmige Kostüme (Sophie Reble), illusionäres Licht und Video (Patrick Fuchs und Judith Selenko), sauberer und eindringlicher Ton (Jörg Debbert und Dietmar Schmidt): Die Welt dieser fantastisch-historischen Parabel über Macht, Machtmissbrauch und Verantwortung wird von Regisseur Manuel Schmitt und seinem Team auf die voll genutzte Bühne „gezaubert“.

Die Coppelius-Mitglieder agieren allesamt mit ihren Instrumenten ebenso als Darsteller und Sänger ausgezeichnet. Allumfassend wie der hämmernde Rhythmus des Stückes und das magische Auge des Meisters thront Musiker Linus von Doppelschlag mit schwebendem Schlagzeug über der Mitte der Bühne. Sebastian Schiller aka Bastille agiert in der Titelrolle tongenau in der Verwandlung vom scheuen Lehrling zum erstarkten Zaubermeister. Hinzu kommen das MiR-Ensemble u.a. mit Sebastian Campione, der den Tonda sehr gut verkörpert, sowie Bele Kumberger als Kantorka mit ihrem klaren, geradlinigen (Orff)-Sopran. Martin Petschan überzeugt rundum in der Rolle des Krabat-Freundes Juro – umso mehr, als ein Beinbruch ihn zwingt, im Rollstuhl aufzutreten. Kurzfristig musste auch pandemiebedingt die Rolle des Meisters umbesetzt werden. So wird die stumme Darstellung von Regisseur Manuel Schmitt mit einer Stimme aus dem Off (Heribert Feckler) ein weiteres mystisches Highlight dieser Uraufführung.

Das 60 Mann starke Orchester macht aus der Tiefe der Bühne unter Leitung von Peter Kattermann die Mischung zwischen Rock und klassischem Klanggebilde perfekt, teilweise à la Filmmusik das Geschehen emotional untermauernd, um sich dann wieder mit Elementen im Stil von Classic Rock durchzusetzen. Dabei spielt der – wie immer perfekte – Opernchor von Alexander Eberle eine intensiv unterstützende Rolle. Ohne diese Zutaten wären die manchmal drögen und zu flachen Texte besonders im ersten Teil verloren. So gelingt jedoch besonders nach der Pause eine mitreißende Rockoper.

Dieter Topp

„Krabat“ (2022) // Oper von Himmelfahrt Scores und Coppelius

Infos und Termine auf der Website des Theaters:
-> Spielzeit 2021/22
-> Spielzeit 2022/23

„Once Upon a Time in Sevilla“

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Juni 2022)
Große Oper, großes Kino, große Sause mit Rossinis „Il barbiere di Siviglia“

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Juni 2022)
Große Oper, großes Kino, große Sause mit Rossinis „Il barbiere di Siviglia“

Sie ist schon eine „gerissene Füchsin“, wie Figaro die schwer heiratswillige Rosina nennt. Nun hat sie, im wirklichen Leben Cecilia Bartoli geheißen, ihren Salzburger Intendanten-Kollegen Rolando Villazón verpflichtet, zu den Pfingstfestspielen mit Generalthema „Sevilla“ die Rossini’sche Überkomödie „Il barbiere di Siviglia“ zu inszenieren. Was rauskommt, ist das nicht ein bisschen zu abgedreht, zu gaga? In gewisser Weise ja, durchaus. Keine weinselige Pointe wird für diese Produktion links liegengelassen. Eine Riesensause. Einmal tanzt die Bartoli mit Frankensteins Monster, Nosferatu ist ihr Gesangslehrer. Einmal treten Krieger der mehrtausendjährigen europäischen Geschichte gegeneinander an, auch Wikinger gegen Römer. Ein Kessel voll bunter Opernkostüme. Der gesamte Fundus: im Einsatz. Andererseits ist so nur auf die Spitze getrieben, was Rossini selbst angelegt hat: Groteske, Witz-Mechanik, Turbulenzen, Delirium, ja so etwas wie die Urgroßmutter des Dada. Da kann man fünfe grade sein lassen.

Was also passiert? Wir sind im Fundus eines Filmstudios, 1930er Jahre. Der Requisiten- und Kostümmeister ist ein Melodrama-Aficionado. Alles kennt er, alles liebt er, was Ceci B. Artoli, die Diva, in den Forza-Studios gedreht hat (ganz zufällig über jene Themen, die auch die Bartoli zu den Pfingstfestspielen der letzten Jahre aufs Programm setzte). Und nun schaut er sich also den jüngsten Film mit B. Artoli an: „Once Upon a Time in Sevilla“. Und die Leinwand wird ihm lebendig. Aus ihr heraus treten Almaviva, dessen angebetete Rosina, Bartolo, Figaro. Toller Einfall. Wie von Woody Allen. Filmspiel wird Bühnenrealität und umgekehrt. Für den Requisitenmeister und das Publikum drehen sich dreieinhalb Stunden große Oper und großes Kino im Kopf. Dabei lässt Villazón nichts anbrennen. Er, der Komödiant, zieht Register um Register. Figaro ist arg korpulent – und das wird mit Fleiß ausgespielt. Und der Heiligenschein für die Bartoli ist diesmal eine leere Filmrolle aus Blech. So geht es kurzweilig, absurd, mit und ohne Klamauk dahin. Bis Filmmogul Forza im zweiten Akt plötzlich den Stromstecker zieht, Spiel und Film einfrieren. Auch das ist höchst intelligent (und musikalisch!) erfunden, weil doch Rossinis Partitur hier tatsächlich mit plötzlichem Erschrecken generalpausiert und erst langsam wieder anläuft, um Gang für Gang hochzuschalten. Gleichwohl gilt: So sehr die Produktion in Entzücken versetzen mag, insgesamt leitet sie ihren Witz weniger aus Handlung ab als aus deren Garnierung durch Requisite, Assoziation, Anspielung, Filmzitat, Neuerfindung.

Letzteres auch in der Rezitativbegleitung, wo immer mal ein Ohrwurm neuerer Zeit aufblitzt. Damit sind wir bei der Musik, die von den „Les Musiciens du Prince – Monaco“ unter Leitung von Gianluca Capuano außergewöhnlich weich, weniger mechanisch ratternd als üblich, ertönt. Der Figaro von Nicola Alaimo ist eine sängerdarstellerische Wucht, wenn auch nicht von sonderlich feinsinniger Stimme. Auch Edgardo Rocha als Almaviva stößt an ästhetische Grenzen – dann, wenn die Höhe auch wendig zu sein hat. Großartige Charakterstudien gelingen Alessandro Corbelli (Bartolo) und Ildebrando D’Arcangelo (Nosferatu-Basilio).

Und die singende Intendantin mit ihrem hohen Alt? Sie wird vom Publikum gleichsam gefressen. Insbesondere nach jener Szene, da sie heftigst nach links mit ihrem falschen Gesangslehrer „Don Alonso“ flirtet, nach rechts hin aber, zu Bartolo, heftigst klar macht, wie hart sie mittels Vokalisen an Registerwechsel, Stütze und Intonation arbeitet. Wieder ein Kabinettstückchen, nach dem das Publikum ebenso tobt wie nach der ganzen Opern-Kino-Party.

Rüdiger Heinze

„Il barbiere di Siviglia“ („Der Barbier von Sevilla“) (1816) // Melodramma buffo von Gioachino Rossini

Die Inszenierung wird bei den Sommerfestspielen wiederaufgenommen, Infos und Termine finden Sie hier.

Wenn Liebe blind macht

Halle (Saale) / Händel-Festspiele Halle (Mai 2022)
„Orlando“ eröffnet das Jubiläum „100 Jahre Händel-Festspiele Halle“

Halle (Saale) / Händel-Festspiele Halle (Mai 2022)
„Orlando“ eröffnet das Jubiläum „100 Jahre Händel-Festspiele Halle“

In Händels Geburtsstadt Halle begann die regelmäßige Pflege seiner Opern 1922 mit der ersten Wiederaufführung seines „Orlando“. Klar, dass genau der 2022 zum 100. Geburtstag der Händel-Festspiele neu befragt wird. Der regieführende Intendant der Oper Halle, Walter Sutcliffe, überträgt das 1733 uraufgeführte Gefühlskammerspiel dazu radikal in unsere Gegenwart.

Ausstatter Gideon Davey hat dafür ein schickes Loft für einen Single-Macho auf die Drehbühne gebaut. Der lässt sich von einem Zoroastro (Ki-Hyun Park mit geschmeidiger Basswucht), der von der inneren Stimme der Überforderung des Mannes von heute zur realen Person wird, gleichsam coachen. Orlando will eigentlich Erfolg und Liebe, soll aber danach vor allem der knallharte Ritter im Kampf mit der Wirklichkeit sein. Der von ihm begehrten Angelica (mit beispielhaften Piani: Franziska Krötenheerdt) haben es aber auch die offen zur Schau getragenen „weiblichen Seiten“ des Gegentyps Medoro angetan. Yulia Sokolik macht das mit selbstbewusstem Changieren zwischen Mehrtagebart-Verführer-Lächeln und High Heels. Wenn sie, bzw. er, gemeinsam mit Angelica die Putzfrau Dorinda (flott und selbstbewusst: Vanessa Waldhart) trösten will und sich ein Dreier in Orlandos Schlafzimmer abzeichnet, trägt dieser Medoro eben einen BH unterm Hemd. Und man wundert sich nicht. Eher schon über die perfekt, aber allzu extensiv zur Schau gestellten Klischees einer alle Register ziehenden, offensiven Weiblichkeit. Selbst wenn sich am Ende, sozusagen politisch korrekt, alles als eine Männerphantasie herausstellt, landet die Regie damit über weite Strecken in der Falle ihrer ausgestellten Mittel. So wie die beiden Frauen gefesselt und gefilmt im Keller des zurückgewiesenen Mannes. Schließlich offenbart sich freilich alles als eine Wahnvorstellung Orlandos. Zum lieto fine, bei dem alle wieder höchst lebendig vereint sind, wird der Grill angeworfen und auf Toleranz gemacht.

Am Pult des Händelfestspielorchesters setzt Christian Curnym auf geschmeidigen Wohlklang mit eher breiten Tempi. Die Vorliebe für das Beinahe-Anhalten der Zeit, das Händel so meisterlich beherrscht, hätte freilich die Einbettung in gelegentlichen Furor gut vertragen. Selbst die wenigen Bravour-Arien, mit denen sich vor allem der Titelheld ins Zeug legen kann, kommen beim katalanischen Countertenor (und einzigem Gast im Protagonisten-Ensemble) Xavier Sabata zwar mit wohlklingendem Timbre, aber doch etwas schaumgebremst über die Rampe. Hier muss sich Halle schon an der selbst in der Vergangenheit etwas höher gelegten Latte messen lassen. Das Premierenpublikum hält freilich nichts von seiner Begeisterung ab.

Dr. Joachim Lange

„Orlando“ (1733) // Dramma per musica von Georg Friedrich Händel

Infos und Termine auf der Website der Festspiele

Liebeselend durch Kulturgrenzen

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Mai 2022)
Puccinis „Madama Butterfly“ entschlackt

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Mai 2022)
Puccinis „Madama Butterfly“ entschlackt

Ist-Status: Unser koloniales „Erbe“ der letzten 500 Jahre fällt uns derzeit auf die Füße, um Frauenrechte steht es trotz „Besser-Wissen“ aus den letzten 300 Jahren noch immer nicht so „recht“ – und in der US-amerikanischen Weltpolitik klaffen Anspruch und Wirklichkeit entlarvend auseinander. Alles eine ideale Ausgangslage für eine zeitgemäße Interpretation von Puccinis allzu oft behämter „Madama Butterfly“.

Die Frankfurter Neuinszenierung bekommt mit dem für Werkbesonderheiten mehrfach ausgezeichneten US-amerikanischen Regisseur R.B. Schlather einen zusätzlichen Reiz. Der ist sich mit Kostümbildnerin Doey Lüthi und Bühnenbildner Johannes Leiacker einig: keine Japanoiserie. Nur von fern sind aus dem Zen-nahen Wabi-Sabi die zwei schmucklosen, bühnenhohen Schiebewände entlehnt, die vor und hinter dem Spielpodium wechselnde Räumlichkeiten andeuten, mal grau, mal schwarz, mal weiß (Licht Olaf Winter). Spannend die zwei Fenster-Rechtecke, die gegen- und miteinander verschoben unterstreichen, dass unsere Wahrnehmung immer wieder „ausschnittweise“ ist.

Noch radikaler globalisiert wirken alle Bühnenfiguren: der Chor eine grässliche Party-Truppe (aber sehr feinsinnig in den Piano-Fernwirkungen, einstudiert von Álvaro Corral Matute), die Hochzeitsbeamten wie eingekaufte Proll-Typen von der Straßenecke, Makler Goro ein geldgieriger Clown, die Bediensteten europäisch-schwarz, Konsul Sharpless im Dauer-Smoking. Und als die Vorderwand beiseite fährt, steht Braut Cio-Cio-San im knallroten, schulterfreien Abendkleid wie eine Model-Puppe aus „Vanity Fair“ auf einem kleinen Podest. Dazu kontrastiert der doch im Werk patriotisch-auftrumpfende Marine-Leutnant Pinkerton in einem Kostüm-Missgriff: braune Slipper, beige Bermudas und knallbuntes Sommerhemd. Ähnlich befremdlich der ganz westlich im hellen Sommeranzug mit Krawatte auftretende Fürst Yamadori, während um Onkel Bonze im traditionellen Priester-Look plötzlich Rauch wallt wie in einer romantisierenden Inszenierung. Dass Butterfly für die Hochzeitsnacht und auch das Ende eine Art Swarovski-Glitzerkleid trägt, gehört zu den anderen Inkonsequenzen.

Den durch das Weglassen des historisch-kulturellen Rahmens gewonnenen Freiraum für den zwischenmenschlichen „Clash of Cultures“ nutzt Regisseur Schlather im ersten Akt wenig überzeugend. Was auch am späten Einspringen von Tenor Vincenzo Costanzo liegen mag, dessen stählerne Forte-Höhe etwas aus dem Rahmen fällt. Doch der sonstige musikdramatische Horizont wird von Dirigent Antonello Manacorda und dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester vielfältig aufgespannt: ein unsentimental-schneller Einstieg fern aller Räucherstäbchen-Schwelgerei, feine Piano-Ziselierung um Blütenzauber, Summchor und Morgendämmerung, fulminante Dramatik im Zwischenspiel wie im Finale. So führt er die zart-kleine, äußerlich perfekt passende Heather Engebretson in der Titelrolle klug disponierend von der Geisha-Puppe zur bitter Scheiternden in einer männerdominierten Welt – was ihr „lirico spinto“-Sopran gut gesteigert bewegend Klang werden lässt. Dazu die warme Mezzo-Anteilnahme von Kelsey Lauritano als Suzuki, die sich zu einem leidvollen Fast-Zusammenbruch am Ende steigert. Und über alle schmerzlichen Brüche hinweg sucht der Konsul Sharpless von Domen Križaj mit seinem hilflos begütigenden Bariton-Samtgold darüber hinweg zu tönen, dass unsere Welt nicht so ist, wie sie sein könnte – gerade auch für Frauen.

Dr. Wolf-Dieter Peter

„Madama Butterfly“ (1904) // Tragedia giapponese von Giacomo Puccini

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Achtung, die Trolle kommen!

Linz / Landestheater Linz (Mai 2022)
Michael Obsts „Unter dem Gletscher“ lädt nach Island ein

Linz / Landestheater Linz (Mai 2022)
Michael Obsts „Unter dem Gletscher“ lädt nach Island ein

Ernst mustert Michael Obst das Publikum im Parkett und auf den Rängen des Linzer Musiktheaters beim Schlussapplaus. Nach mehr als drei Stunden hängen die verbliebenen Zuschauer ein wenig erschöpft in ihren Sitzen nach der Reise an den Gletscher Snæfellsjökull. Zurückhaltend wird Ensemble, Regie und Komponist beklatscht. Michael Obst, der gelassen auf die Reaktion reagiert, hat „Unter dem Gletscher“ als Auftragswerk für Linz komponiert. Der vielseitig engagierte 66-jährige Deutsche setzte 2016 hier mit seiner Oper „Solaris“ Maßstäbe. Nun stellt sich die Frage, ob diese mit seinem neuesten Werk getoppt werden können. Aber der Reihe nach. Zunächst zum Stück.

Island ist nicht mehr nur eine geheimnisvolle, eisverpackte Insel irgendwo im Norden, sondern längst ein beliebtes Reiseziel. Zahlreiche Krimis und TV-Serien sind gerne im Land der Geysire, Vulkane, Trolle und Elfen sowie Bewohner mit unaussprechlichen Namen angesiedelt. Tatsächlich stammt auch ein Literatur-Nobelpreisträger von hier: Halldór Laxness. Ebendieser hat auch den Roman „Am Gletscher“ verfasst, die Vorlage für Obsts Oper.

Die Welt, die Laxness eröffnet, ist eine kuriose, traurige, schräge und vom rauen Leben am Gletscher geprägte. Der Pfarrer eines kleinen Dorfs am Snæfellsjökull nimmt seinen Job nicht ernst, daher sind Fenster und Türen der Kirche zugenagelt. Seine Frau ist verschwunden, der Jugendfreund in die USA gezogen, er lebt zurückgezogen und bastelt. Über die Bühne wandern im Laufe des Abends des Weiteren ein eifriger Abgesandter des Bischofs, Kuchen backende Frauen, ein skurriler Pferdehändler und ein cooler Trucker sowie verbotenen Substanzen nicht abgeneigte Hippies. Später taucht die Ehefrau wieder auf und der Jugendfreund hat einen Kurzauftritt mit letalem Ende.

Das Bühnenbild von Falko Herold schafft zu dieser verwirrenden Handlung, die alle wichtigen Themen der Welt einfangen will und weniges von dieser Mission erfüllt, das passende Ambiente: ein windschiefes Häuschen, das wohlig zum Besuch einlädt, wenn es in die Höhe fährt und sein Inneres preisgibt. Die Kirche stöhnt aus den letzten Latten und ein unsympathischer Neubau wird an die Wand projiziert. Die Dialoge schleppen sich dahin (das Libretto stammt von Intendant und Regisseur Hermann Schneider) und der Zuschauer möchte in das Land der Träume fliehen, wäre da nicht die Musik.

Michael Obst hat einen bunten Reigen an Klangwelten komponiert und griff dabei in jeden musikalischen Topf: Volkslied, Jazz, Kirchenmusik oder Nummernoper. Zwischen den lose aneinandergereihten Teilen zwitschern die Instrumente ganz reizende Motive von einheimischen Vögeln. Nichts schadet, was musikalisch daherkommt, sondern bringt Abwechslung, tatkräftig vom Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Ingmar Beck umgesetzt. Ein Spannungsbogen kommt aber nicht wirklich auf, ein riesenhafter Troll auf der Videoleinwand bringt die Erlösung, nämlich das Ende. Zu Unrecht gehen bisweilen die musikalischen Leistungen der Sänger und Sängerinnen unter. Hervorzuheben sind Anna Alàs i Jové als feinstimmiger Vebi, Michael Wagner als stimmgewaltiger Pfarrer und die mit schillerndem Timbre ausgestattete Gotho Griesmeier als seine Frau.

Susanne Dressler

„Unter dem Gletscher“ (2022) // Musiktheater von Michael Obst (Komposition) und Hermann Schneider (Libretto)

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Hübscher Herzstillstand

Kopenhagen / Det Kongelige Teater (Mai 2022)
Der Doppelabend „Manualen / Die sieben Todsünden“

Kopenhagen / Det Kongelige Teater (Mai 2022)
Der Doppelabend „Manualen / Die sieben Todsünden“

Die Notfallnummer steht im Programmheft – zu wählen bei unerträglichen Schmerzen des Besuchers oder eines Angehörigen. Komponistin Louise Alenius interessiert sich für solche Randzustände des Schmerzes und des Sterbens, ihr Stück „Prequiem“ von 2016 wird für jeweils nur einen todkranken Zuschauer gespielt. Insofern ist „Manualen“ („Das Handbuch“), als Uraufführung mit Weill/Brechts „Die sieben Todsünden“ verkoppelt, eine konsequente Fortsetzung ihrer Arbeit: In 70 Minuten wird der finale Schmerz in einem menschlichen Körper bis zum mit Hilfe der titelgebenden „Gebrauchsanleitung“ bewusst herbeigeführten Herzstillstand verhandelt.

Der Partitur hört man Alenius’ Werdegang an, sie hat Ballette und Werbefilme klanglich versorgt: Der fast durchweg präsentierte Breitwand-Hollywood-Sound klingt wie auch das metronomische Dauerpochen im Sekundentakt erstmal beeindruckend, rhythmisch und süffig, erschöpft aber auch schnell. Denn das, was (zumal mit dem Sujet) die Sache interessant machen würde, Ausweitung der Klangsprache, Spreizung der Energien, was also Spannung und einen Bogen schaffen könnte, bleibt aus. e-moll, a-moll, cis-moll in ewig gefälliger Wiederkehr: So bleibt die Musik eine dekorative Folie um ein viel gewichtigeres Thema. Das Bühnenpersonal hingegen erinnert (unfreiwillig?) stark an Woody Allens Komödie „Was sie schon immer über Sex wissen wollten“. Herz, Lunge, zwei Nieren, getanzte Blutkörperchen, dazu eben das „Manualen“: Sie alle rackern sich hier halt nicht zum Orgasmus durch, sondern zum Tod.

Das Bühnenbild (Marie í Dali) ist ein beeindruckendes Geflecht aus Leitern und DNA-Spiralen mit einem Lichtschlangen-umgürteten Käfig für das Herz. Doch Regisseurin Sasha Milavic Davies nutzt diese Vorlage nicht, um eine schlüssige Erzählung herzustellen, derer dieses Stück dringend bedarf. An den Sängern liegt es nicht: Elisabeth Jansson gestaltet das „Bewusstsein“ mit Verve und beeindruckend weiter Tessitura, Petri Lindroos gibt ein tieftönendes, perfekt verständliches „Herz“, Morten Grove Frandsen mit schönem Falsett ein insistierendes „Handbuch“. Der Chor findet im Lauf des Stückes zu mehr Homogenität und die „Hand“ sind fünf mutige Mädchen aus dem Kinderchor.

Was nun hat „Manualen“ mit den „Sieben Todsünden“ zu tun, der letzten Brecht/Weill’schen Zusammenarbeit von 1933? Gar nichts, weder im Material noch in der Umsetzung. Nach der dreiviertelstündigen Umbaupause sind Bühnenbild und Solisten neu, Nanna Øland Fabricis („aka Oh Land“, wie wir lesen) führt als formidable Anna 1 durch den Halbstünder. Sie hat den „triple threat“ der Musicalstars aus Singen, Spielen, Tanzen absolut drauf und wird virtuos unterstützt vom Tänzer Lukas Hartvig-Møller als Anna 2. Das männliche Familienquartett singt, dass es eine wahre Lust ist. Dass der Regie weder zum Stück noch zu den Figuren etwas einfällt, fängt die flotte Choreografie (Paul Pui Wo Lee) ziemlich gut ab.

Ausnahmslos brillant ist die Königliche Kapelle unter Robert Houssart: Sie wirft sich engagiert in beide Partituren, gestaltet souverän den Wechsel von Alenius’ Hans-Zimmer-Sound zum gewollt dreckigen Weill-Klang und ist nicht nur das einzige Kontinuum, sondern das Beeindruckendste an dieser Doppelproduktion, deren „Warum“ ein Rätsel bleibt, dekorativ und letztlich belanglos.

Stephan Knies

„Manualen / Die sieben Todsünden“ (2022 / 1933) // Oper von Louise Alenius und Ballet Chanté von Kurt Weill

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Der „Löwe von Münster“

Münster / Theater Münster (Mai 2022)
Düster-bewegende Uraufführung von Thorsten Schmid-Kapfenburgs „Galen“

Münster / Theater Münster (Mai 2022)
Düster-bewegende Uraufführung von Thorsten Schmid-Kapfenburgs „Galen“

Clemens August Kardinal Graf von Galen, Bischof von Münster (1878-1946) trug nicht allein einen prominenten Namen und imposante Titel. Überdies von hünenhafter Gestalt, bot der Geistliche aus westfälischem Uradel den Mut auf, in seinen Predigten die braune Bande des von ihr schönfärberisch „Euthanasie“ genannten Mordes an geistig behinderten Menschen anzuklagen. Thorsten Schmid-Kapfenburg und sein Librettist Stefan Moster schildern in ihrem Stationenstück, welchen inneren Weg der stockkonservative und eine autoritäre Staatsform nationalistischen Zuschnitts durchaus begrüßende Geistliche zurücklegt, bis er sich dazu entschließt, seine Stimme zu erheben. Die Nationalsozialisten brechen die Ermordung Geistig-Behinderter daraufhin tatsächlich ab. Sein Aufbegehren trägt Galen die Todfeindschaft der braunen Machthaber ein. Doch verschieben sie ihre Rache auf die Zeit nach dem „Endsieg“, zu groß ist die Furcht vor dem Aufruhr der kreuzkatholischen Westfalen.

Freilich befassen sich Schmid-Kapfenburg und Moster in den 20 Szenen des Werks nicht minder mit den düsteren Seiten des Münsteraner Bischofs. So verweigert sich Galen nach der Pogromnacht 1938 dem Wunsch der städtischen jüdischen Gemeinde, er möge öffentlich für ihre Opfer eintreten. Wenn die britischen Besatzer ihm als Repräsentanten des „anderen Deutschlands“ ihre Aufwartung machen, fertigt er sie barsch ab. Die Oper zielt darauf, den „Löwen von Münster“ von heute aus zu befragen. Im Stück geschieht das durch eine junge Frau. In imaginären Zwiegesprächen nimmt sie den Kardinal heftig ins Gebet.

Schmid-Kapfenburgs Partitur zeichnet sich durch reiche Differenzierung im Orchester aus. Während der ersten zehn Bilder stellen sich Reminiszenzen an Opern Schrekers, Hindemiths und Strawinskys ein. Der „Löwe“ in Galen verschafft sich in einem kraftvollen Arioso Geltung. Weshalb der Komponist die Nazis ausgerechnet mit der Zwölftonmusik des österreichischen Juden Schönberg versieht, bleibt unerfindlich.

Szenische und musikalische Realisierung wissen zu packen. Regisseur Holger Potocki kratzt nicht an der Monumentalität des „Löwen von Münster“, aber er zeigt, was für einen langen und schwarzen Schatten der Kardinal wirft. Andreas Becker verantwortet Bühne und Kostüme. Sein faszinierender Raum strahlt eine allgemein gehaltene Aura von Sakralität aus, in die sich konkrete Spielorte wie eine Kapelle und ein Privatzimmer in Galens Bischofshaus hineinschieben. Die Kostüme verdanken sich historischer Detailrecherche.

Golo Berg am Pult des Sinfonieorchesters Münster ist der berufene Anwalt der Partitur. Dynamische Abstufungen und Transparenz sind phänomenal. Gregor Dalal verkörpert Galen und beweist in nobler Mischung aus Gemessenheit und Leidenschaftlichkeit baritonales Riesenformat. Kathrin Filip fühlt als Jasmin dem Kardinal engagiert auf den Zahn. Die großartige Suzanne McLeod bestärkt als Mutter des Münsteraner Bischofs ebenso liebevoll wie autoritativ den Sohn darin, dass ein Galen konsequent seinen vom Glauben gebotenen Weg zu gehen habe.

Michael Kaminski

„Galen“ (2022) // Oper von Thorsten Schmid-Kapfenburg

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Fegefeuer im Niemandsland

München / Münchener Biennale (Mai 2022)
Beklemmend-prophetische „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“

München / Münchener Biennale (Mai 2022)
Beklemmend-prophetische „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“

Dröhnende Panzer, rotierende Hubschrauber, im Gleichschritt marschierende Soldaten: Nicht zufällig entstehen solche Bilder beim Hören der feinnervig austarierten Partitur, die Bernhard Gander (*1969) zur Eröffnung der diesjährigen Münchener Biennale (in Koproduktion mit der Deutschen Oper Berlin) komponiert hat. „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ heißt denn auch die Uraufführung auf ein Libretto des ukrainischen Lyrikers und Autors Serhij Zhadan (*1974). Dieser zählt seit Jahrzehnten zu den prägenden Stimmen der osteuropäischen Literaturszene. Was er an diesem Abend in der Muffathalle sprachgewaltig entfesselt, ist die Rückkehr in ein Dunkel, das aus westlicher Distanz (zu) lange verdrängt wurde: „Osteuropa gleicht einem Fegefeuer.“

Mit „Good Friends“ ist das von Daniel Ott und Manos Tsangaris kuratierte Festival für neues Musiktheater 2022 überschrieben. Wie zynisch aktuell ihr Auftragswerk zum russisch-ukrainischen Verhältnis über Nacht auch werden sollte: Was Zhadan und Gander hier lange vor dem 24. Februar geschaffen haben, ist weit mehr als ein flüchtiger Kommentar unter vielen. So oft zeitgenössische Kompositionen in die Kategorie „Eintagsfliege“ fallen, so sehr ist zu hoffen, dass den „Liedern von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ ein nachhaltigeres Bühnenleben beschieden ist. Nicht zuletzt deshalb, weil das Werk auf „einfache“ Antworten verzichtet. Das Niemandsland, in dem die exemplarische Geschichte von Krieg, Vertreibung und Flucht verortet ist, gerät zur Projektionsfläche für Geschichtsklitterung, Zivilisationskritik, Grenzen im Kopf: „Das Problem ist nicht, dass sie fremd sind. Das Problem ist, dass sie anders sind.“

„Hier ist Krieg, schon gehört?“, ist auf der tristen Wellblech-Landschaft im Hintergrund zu lesen. Die Produktion spielt in einem „Passkontrollbereich am Grenzübergang eines osteuropäischen Landes“. Ein Autowrack, darüber der fahle Mond, uniforme Kleidersäcke, ein Berg voller Rettungswesten direkt neben einer Mülltonne: Viel mehr ist nicht nötig, um diese Zone des Transits greifbar zu machen (Bühne: Theun Mosk, Kostüme: Anna Sophie Domenz). Der Mensch zählt nichts, geht unter in der anonymen Masse: „Der Nächste.“

Hier warten zwei Männer in einer Gefängniszelle auf die Abschiebung in ihre „Heimat“ samt dortigem Gerichtsverfahren, einer umherirrenden Frau in abgewetzter Winterjacke ist nichts geblieben als ihr Baby und die Erinnerung an eine Welt in Flammen. Zuhause sind sie schon längst nirgends mehr – unwichtig, woher sie kommen, gleichgültig, wohin sie gehen. Carl Rumstadt (Bariton), Andrew Robert Munn (Bass) und Antonia Ahyoung Kim (Sopran) verleihen diesen Namenlosen Kontur, verstehen den Balanceakt zwischen verstörend-poetischer Seelenschau und brennend-aufbäumender Verbitterung sensibel zu zeichnen. Nur folgerichtig, dass Expression vor Stimmschönheit geht – grandios unterstützt durch soghafte chorische Passagen, die das Leid der direkt Betroffenen ebenso einfangen wie die westliche Dekadenz und Selbstverlogenheit (intensiv angeprangert durch Schauspielerin Nadine Geyersbach). Diese Stärken weiß Regisseurin Alize Zandwijk zu deuten, deren Inszenierung die Kraft von Libretto und Musik dezent untermauert, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen.

Das ist auch gar nicht nötig angesichts eines zerklüfteten Klangbilds zwischen archaischer Wucht und elektronisch-psychedelischer Irritation, liedhafter Anmut und metallisch-rhythmisierter Überwältigung, das von fünf Instrumentalisten des Ensemble Modern unter Elda Laro über 100 pausenlose Minuten in Atem hält. Ein Stück Musiktheater, das den Finger in schmerzende Wunden legt: „Über dem goldenen Europa bricht der Morgen des letzten Tages an.“

Florian Maier

„Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (2022) // Musiktheater von Bernhard Gander (Komposition) und Serhij Zhadan (Libretto)

Schatz der Klänge

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Mai 2022)
Marc Albrecht und Christof Loy lassen Schrekers „Schatzgräber“ leuchten

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Mai 2022)
Marc Albrecht und Christof Loy lassen Schrekers „Schatzgräber“ leuchten

An der Deutschen Oper Berlin inszeniert Christof Loy eine kleine Serie einst erfolgreicher Opern, die heute einiger Ausgrabungs-Anstrengungen bedürfen, um sie wieder auf die Bühne zurückzuholen. Nach Erich Wolfgang Korngolds „Wunder der Heliane“ und Riccardo Zandonais „Francesca da Rimini“ nimmt er sich nun Franz Schrekers „Schatzgräber“ aus dem Jahr 1920 vor. Mit Marc Albrecht hat er einen Dirigenten an seiner Seite, der mit dem Werk schon 2006 in Amsterdam Erfolg hatte.

Schreker (1878-1934) gehört zu den Komponisten, die Wagner überwinden wollten, gleichwohl in seinem Bann standen. So hat er dem zentralen Paar der Geschichte eine Liebesszene im „Tristan“-Format zugedacht. Daniel Johansson als singender Schatzgräber Elis und Elisabet Strid als die skrupellos ehrgeizige Els laufen dabei zu Hochform auf. Marc Albrecht lässt auch sonst vor allem die opulente Klangpracht fluten und entfaltet all das suggestive Charisma dieser doppelbödigen Musik.

Das Werk kreist äußerlich um verschwundene Juwelen der Königin und deren Wiederbeschaffung. Der Narr des Königs (Michael Laurenz) weiß um die Fähigkeiten jenes Sängers mit der magischen Wunderlaute, der da Abhilfe schaffen kann. Die Inszenierung ist der Sinnkrise der Gesellschaft am Ende des Ersten Weltkriegs auf der Spur, die metaphorisch in der märchenhaften Lebenskrise im selbstgemachten Libretto, vor allem aber in der Musik mitschwingt. Dafür hat Johannes Leiacker einen dunkel marmorierten Einheitssaal für den von Barbara Drosihn in heutige Kostüme gesteckten Hofstaat auf die Bühne gesetzt. Die magische Wirkung der Musik wird offensichtlich, wenn das Liebesduett in eine regelrechte, effektvoll ins Bild gesetzte Orgie übergeht.

Über weite Strecken hält das doppelte Spiel von Els die Spannung aufrecht. Sie hat nicht nur Bewerber aus dem Weg räumen lassen, sondern auch den gesuchten Schmuck in ihrem Besitz. Dass sie die Juwelen Elis mit der Maßgabe eines Frageverbots (wie in Wagners „Lohengrin“) überlässt, führt direkt in die Katastrophe. Dass sie die Juwelen hatte, kommt natürlich heraus, als die Hofgesellschaft den gefeierten Wiederbeschaffer des Schatzes feiert. Els entkommt dem Scheiterhaufen nur, weil der Narr den Wunsch nach einer Frau beim König frei hatte. An dessen Seite aber stirbt sie nach einem Jahr des Dahinvegetierens. Christof Loy macht sich mit seiner noblen Ästhetik und der präzisen Personenführung zum Anwalt einer heute seltsam fern wirkenden Geschichte. Marc Albrecht hat es da mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin leichter, da er für den Klangrausch zuständig ist, mit dem Schreker immer noch zu faszinieren vermag.

Roberto Becker

„Der Schatzgräber“ (1920) // Oper von Franz Schreker

Infos und Termine auf der Website des Theaters