Einsam wie die freie Seele des Don Juan hebt die Flöte an, auf dem „d“. Dem d-Moll des „Don Giovanni“ und des „Dies Irae“, minutenlang. Mehrere Geister singen bald um ihn herum, künden vom Ende der Liebesnacht, der Tag entzieht ihn seinen Verehrerinnen. Zweieinhalb Stunden später wissen wir: Dieser Don Juan wird nicht in die Hölle fahren, das wäre zu nett vom Tod, den hier Tone Kummervold dringlich, überlegen und begehrend (ja, auch Madame La Morte begehrt ihn!) singt. Don Juan muss auf ewig er selbst bleiben, für immer als Projektionsfläche für die Welt herhalten, für die Sehnsüchte aller Donna Annas nach unbedingter, lebensverändernder Liebe und für die der Komture dieser Welt nach innerer Freiheit und archaischem Schmerz bis zum Sterben. Er soll auf ewig in jedem von uns Nietzsches Hinterwäldler verscheuchen, auf dass unser Leben eine tiefere Bedeutung erhalte.

Lange hatte Erwin Schulhoff nach einem Stoff für seine erste Oper gesucht, die schon seine letzte werden sollte, auch er kam ja durch die Nazis um. Durch die Vermittlung von Max Brod hatte er im zwischenkriegsschwülen Prag der 1920er Jahre einen Don-Juan-Text von Karel Josef Beneš erhalten, für den er sofort Feuer fing. Die Umarbeitungen des Textes samt Brods Übertragung ins Deutsche sind eine eigene vertrackte Geschichte, der Komponist aber schuf eine Partitur, die in ihrer Meisterschaft zu den großen Opern des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss. Wie eine riesige Kammermusik-Orgel klingt sein Orchester, keine Stimme scheint unterzugehen oder entbehrlich, die Stile wechseln in einem fort zwischen Wagner, Jazz und Strawinsky und kreisen doch immer um das anfängliche „d“ der Flöte. Kein Zitat wirkt aufgesetzt, auch nicht die vielen aus Mozarts „Don Giovanni“, jeder Takt stammt unverkennbar vom Komponisten Schulhoff. Was für ein Schatz, den Intendant Per Boye Hansen da gehoben hat mit seinem Team an der Oper in Prag, im Rahmen der durch das Auswärtige Amt in Berlin kräftig unterstützten Reihe „Musica non grata“.

Und was für ein Team das ist! Der junge Dirigent Jiří Rožeň hebt das Orchester auf internationales Niveau, der ebenso junge Ukrainer Denys Pivnitskyi singt und spielt diese mörderische Partie des Don Juan mit schierer Kraft und stupender Figuren-Psychologie, dass es einem die Sprache verschlägt. Seine Landsfrau Victoria Khoroshunova glänzt in gleich mehreren Frauenrollen. Regisseur Calixto Bieito findet für die unerhörte Herausforderung, zweieinhalb Stunden Oper quasi ohne Handlung samt minutenlanger rauschhafter Orchesterpassagen zu bebildern, eine Umsetzung, die sich an seinem Lieblings-Surrealisten Luis Buñuel orientiert. Es ist die Dekonstruktion eines schwarzen Traumraumes, in den erst ein, dann immer mehr Charaktere eindringen, nach der Pause aus dem Schnürboden gar ein echter Leichenwagen, zu dem es Don Juan natürlich drängt. Aber sterben, wir hören’s nochmal im anrührenden Duett mit La Morte, wird er nicht, darf er nicht. Und das Orchester spielt darunter, als ob es kein Morgen gäbe. Die Prager Oper, zu Schulhoffs Zeit eines der relevanten Häuser in Europa, hat mit diesem wichtigen, fesselnden, rauschhaften „Flammen“-Abend in genau deren Kreis nachdrücklich angeklopft. Und „Musica non grata“ läuft ja noch zwei weitere Jahre …

Stephan Knies

„Plameny“ („Flammen“) (1932) // Musikalische Tragikomödie von Erwin Schulhoff

Infos und Termine:
-> Národní divadlo (Prag) (bis 26. November 2022)
-> Gastspiel beim Festival Janáček Brno (20. November 2022)