In Händels Geburtsstadt Halle begann die regelmäßige Pflege seiner Opern 1922 mit der ersten Wiederaufführung seines „Orlando“. Klar, dass genau der 2022 zum 100. Geburtstag der Händel-Festspiele neu befragt wird. Der regieführende Intendant der Oper Halle, Walter Sutcliffe, überträgt das 1733 uraufgeführte Gefühlskammerspiel dazu radikal in unsere Gegenwart.

Ausstatter Gideon Davey hat dafür ein schickes Loft für einen Single-Macho auf die Drehbühne gebaut. Der lässt sich von einem Zoroastro (Ki-Hyun Park mit geschmeidiger Basswucht), der von der inneren Stimme der Überforderung des Mannes von heute zur realen Person wird, gleichsam coachen. Orlando will eigentlich Erfolg und Liebe, soll aber danach vor allem der knallharte Ritter im Kampf mit der Wirklichkeit sein. Der von ihm begehrten Angelica (mit beispielhaften Piani: Franziska Krötenheerdt) haben es aber auch die offen zur Schau getragenen „weiblichen Seiten“ des Gegentyps Medoro angetan. Yulia Sokolik macht das mit selbstbewusstem Changieren zwischen Mehrtagebart-Verführer-Lächeln und High Heels. Wenn sie, bzw. er, gemeinsam mit Angelica die Putzfrau Dorinda (flott und selbstbewusst: Vanessa Waldhart) trösten will und sich ein Dreier in Orlandos Schlafzimmer abzeichnet, trägt dieser Medoro eben einen BH unterm Hemd. Und man wundert sich nicht. Eher schon über die perfekt, aber allzu extensiv zur Schau gestellten Klischees einer alle Register ziehenden, offensiven Weiblichkeit. Selbst wenn sich am Ende, sozusagen politisch korrekt, alles als eine Männerphantasie herausstellt, landet die Regie damit über weite Strecken in der Falle ihrer ausgestellten Mittel. So wie die beiden Frauen gefesselt und gefilmt im Keller des zurückgewiesenen Mannes. Schließlich offenbart sich freilich alles als eine Wahnvorstellung Orlandos. Zum lieto fine, bei dem alle wieder höchst lebendig vereint sind, wird der Grill angeworfen und auf Toleranz gemacht.

Am Pult des Händelfestspielorchesters setzt Christian Curnym auf geschmeidigen Wohlklang mit eher breiten Tempi. Die Vorliebe für das Beinahe-Anhalten der Zeit, das Händel so meisterlich beherrscht, hätte freilich die Einbettung in gelegentlichen Furor gut vertragen. Selbst die wenigen Bravour-Arien, mit denen sich vor allem der Titelheld ins Zeug legen kann, kommen beim katalanischen Countertenor (und einzigem Gast im Protagonisten-Ensemble) Xavier Sabata zwar mit wohlklingendem Timbre, aber doch etwas schaumgebremst über die Rampe. Hier muss sich Halle schon an der selbst in der Vergangenheit etwas höher gelegten Latte messen lassen. Das Premierenpublikum hält freilich nichts von seiner Begeisterung ab.

Dr. Joachim Lange

„Orlando“ (1733) // Dramma per musica von Georg Friedrich Händel

Infos und Termine auf der Website der Festspiele