Ernst mustert Michael Obst das Publikum im Parkett und auf den Rängen des Linzer Musiktheaters beim Schlussapplaus. Nach mehr als drei Stunden hängen die verbliebenen Zuschauer ein wenig erschöpft in ihren Sitzen nach der Reise an den Gletscher Snæfellsjökull. Zurückhaltend wird Ensemble, Regie und Komponist beklatscht. Michael Obst, der gelassen auf die Reaktion reagiert, hat „Unter dem Gletscher“ als Auftragswerk für Linz komponiert. Der vielseitig engagierte 66-jährige Deutsche setzte 2016 hier mit seiner Oper „Solaris“ Maßstäbe. Nun stellt sich die Frage, ob diese mit seinem neuesten Werk getoppt werden können. Aber der Reihe nach. Zunächst zum Stück.

Island ist nicht mehr nur eine geheimnisvolle, eisverpackte Insel irgendwo im Norden, sondern längst ein beliebtes Reiseziel. Zahlreiche Krimis und TV-Serien sind gerne im Land der Geysire, Vulkane, Trolle und Elfen sowie Bewohner mit unaussprechlichen Namen angesiedelt. Tatsächlich stammt auch ein Literatur-Nobelpreisträger von hier: Halldór Laxness. Ebendieser hat auch den Roman „Am Gletscher“ verfasst, die Vorlage für Obsts Oper.

Die Welt, die Laxness eröffnet, ist eine kuriose, traurige, schräge und vom rauen Leben am Gletscher geprägte. Der Pfarrer eines kleinen Dorfs am Snæfellsjökull nimmt seinen Job nicht ernst, daher sind Fenster und Türen der Kirche zugenagelt. Seine Frau ist verschwunden, der Jugendfreund in die USA gezogen, er lebt zurückgezogen und bastelt. Über die Bühne wandern im Laufe des Abends des Weiteren ein eifriger Abgesandter des Bischofs, Kuchen backende Frauen, ein skurriler Pferdehändler und ein cooler Trucker sowie verbotenen Substanzen nicht abgeneigte Hippies. Später taucht die Ehefrau wieder auf und der Jugendfreund hat einen Kurzauftritt mit letalem Ende.

Das Bühnenbild von Falko Herold schafft zu dieser verwirrenden Handlung, die alle wichtigen Themen der Welt einfangen will und weniges von dieser Mission erfüllt, das passende Ambiente: ein windschiefes Häuschen, das wohlig zum Besuch einlädt, wenn es in die Höhe fährt und sein Inneres preisgibt. Die Kirche stöhnt aus den letzten Latten und ein unsympathischer Neubau wird an die Wand projiziert. Die Dialoge schleppen sich dahin (das Libretto stammt von Intendant und Regisseur Hermann Schneider) und der Zuschauer möchte in das Land der Träume fliehen, wäre da nicht die Musik.

Michael Obst hat einen bunten Reigen an Klangwelten komponiert und griff dabei in jeden musikalischen Topf: Volkslied, Jazz, Kirchenmusik oder Nummernoper. Zwischen den lose aneinandergereihten Teilen zwitschern die Instrumente ganz reizende Motive von einheimischen Vögeln. Nichts schadet, was musikalisch daherkommt, sondern bringt Abwechslung, tatkräftig vom Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Ingmar Beck umgesetzt. Ein Spannungsbogen kommt aber nicht wirklich auf, ein riesenhafter Troll auf der Videoleinwand bringt die Erlösung, nämlich das Ende. Zu Unrecht gehen bisweilen die musikalischen Leistungen der Sänger und Sängerinnen unter. Hervorzuheben sind Anna Alàs i Jové als feinstimmiger Vebi, Michael Wagner als stimmgewaltiger Pfarrer und die mit schillerndem Timbre ausgestattete Gotho Griesmeier als seine Frau.

Susanne Dressler

„Unter dem Gletscher“ (2022) // Musiktheater von Michael Obst (Komposition) und Hermann Schneider (Libretto)

Infos und Termine auf der Website des Theaters