Passau / Landestheater Niederbayern (Mai 2025) Alban Bergs „Lulu“ als Projektionsfläche
Fragmente üben in der Opernliteratur einen besonderen Reiz aus. Das Geheimnis des Unvollendeten teilt auch Alban Bergs Oper „Lulu“, die schon vor ihrer durchaus nicht unumstrittenen Komplettierung durch Friedrich Cerha ein reges Bühnenleben führte. Dass dies auch an kleineren Bühnen möglich ist, dafür sorgt seit 2012 eine clevere Bearbeitung des Dirigenten und Komponisten Eberhard Kloke, deren Qualitäten sich bei der Neuproduktion am Landestheater Niederbayern zeigen.
Kloke ignoriert das langatmige Paris-Bild und konzentriert sich auf die wenigen überlieferten Skizzen Bergs. Dadurch präsentiert sich der letzte Akt deutlich gestrafft und die Geschichte steuert zielstrebig ihrem blutrünstigen Finale entgegen. Auch die reduzierte Orchesterbesetzung, die als Ausgleich mit Akkordeon und Klavier angereichert wird, lässt manche Details der Partitur deutlicher hervortreten als das üppige Original. Der langjährige Generalmusikdirektor Basil H. E. Coleman hat den Graben stets sicher im Griff und hält das Geschehen gut im Fluss. Für ihn ist die Wedekind-Vertonung ebenso eine Herzensangelegenheit wie für den 2026 scheidenden Intendanten Stefan Tilch, der sein Publikum gern mit Ausgrabungen und Raritäten überrascht. Das „wahre Tier“, das der Conférencier zu Beginn ankündigt, ist in seiner stringent erzählten Inszenierung keineswegs Lulu. Denn animalische Charakterzüge spiegeln sich schon im Prolog eher in den Kostümen ihrer Liebhaberinnen und Liebhaber.
Das Objekt der allgemeinen Begierde, das in jeder Beziehung einen neuen Namen umgehängt bekommt, ist vor allem Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte anderer. Weshalb sie das Ausstattungsduo Charles Cusick Smith und Philip Ronald Daniels immer wieder hinter Pappaufstellern verschwinden lässt, die sie zu einer Art Ankleidepuppe werden lassen. Mit Natasha Sallès als Titelheldin ist dem Haus ein echter Glücksgriff gelungen. Die brasilianische Sopranistin bringt alles mit, was es für diese herausfordernde Rolle braucht. Trotz ihrer zierlichen Erscheinung verfügt sie über eine fesselnde Bühnenpräsenz und die Spitzentöne, die sie selbst in den höchsten Lagen so nonchalant funkeln lässt, dass man vergisst, wie verzwickt dieser Klassiker der Moderne komponiert ist.
Peter Tilch verleiht dem anfangs noch standhaften Dr. Schön mit markigem Bariton die nötige Autorität, ehe er von seinen Gefühlen übermannt wird. Ähnlich wie Edward Leach, der den jugendlichen Überschwang von Schöns Sohn Alwa in geradezu heldentenorale Töne kleidet. Subtiler ans Werk schreitet Reinhild Buchmayer, deren edel timbrierter Mezzo der aufopfernd liebenden Gräfin Geschwitz gut zu Gesicht steht. Sie steuert dem Abend ebenso eine eigene Farbe bei wie Stefan Stoll, der als asthmatisch rasselnder Schigolch für einige sarkastisch schwarzhumorige Momente sorgt, für die bei Tilchs Deutung im Sinne Wedekinds ebenfalls Platz ist. Eine mehr als beachtliche Ensembleleistung, die auch vom Passauer Publikum gebührend honoriert wird. Vor allem aber ein starkes Plädoyer für die Kloke-Fassung der Partitur.
Tobias Hell
„Lulu“ (1937/2010) // Oper von Alban Berg, vollendet und orchestriert von Eberhard Kloke
Infos und Termine auf der Website des Landestheaters Niederbayern