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Rezensionen 2022/04

Erwachsenwerden

Schwetzingen / Schwetzinger SWR Festspiele (April 2022)
Uraufführung von Johannes Kalitzkes Oper „Kapitän Nemos Bibliothek“

Schwetzingen / Schwetzinger SWR Festspiele (April 2022)
Uraufführung von Johannes Kalitzkes Oper „Kapitän Nemos Bibliothek“

Die 70. Schwetzinger SWR Festspiele starten mit einer Uraufführung im Rokokotheater des Schlosses. Der Auftrag dafür ging an Johannes Kalitzke. Da der Komponist auch ein gesuchter Dirigent ist, leitet er die Uraufführung seiner siebten Oper am Pult des Ensemble Modern natürlich selbst. Mit diesem Auftragswerk (in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen) erfüllte er sich den Wunsch, einmal Musiktheater für Puppen zu komponieren. Für die szenische Umsetzung ist Christoph Werner genau der richtige. Sein Hallenser Puppentheater gehört nicht nur zu den renommiertesten des Landes, er hat auch eigene Erfahrungen mit Musiktheater. Diesmal doubeln zwei seiner Puppen die beiden Hauptfiguren in Kalitzkes kunstvoll gebauter und mit elektronischen Beimischungen versehener Novität.

Die Vorlage für „Kapitän Nemos Bibliothek“ ist der gleichnamige Roman von Per Olov Enquist, aus dem Julia Hochstenbach ein bühnentaugliches Libretto destilliert hat, ohne dabei das rätselhaft Verstiegene dieser Selbstfindung zweier Jungen beim Erwachsenwerden gänzlich wegzubügeln. Diese sind nach ihrer Geburt vertauscht wurden. Im Alter von sieben Jahren wird der Irrtum behoben, damit die „göttliche Ordnung“ in der Dorfgemeinschaft wieder stimmt. Für die beiden ist das der Beginn einer Dauerkrise, in deren Verlauf jenes Haus, in dem erst einer, dann der andere daheim war, als ein Akt der Befreiung in Flammen aufgeht.

Die menschliche Gestalt der jungen Erwachsenen, die sich an diese Phase ihrer Kindheit erinnern, liefern der russische Countertenor Iurii Iushkevich als „Ich“ und Sopranistin Johanna Zimmer als „Johannes“ höchst glaubwürdig. In ihrer erinnerten kindlichen Gestalt kommen die von je zwei Puppenspielern geführten Puppendoubles als die jüngeren Alter Egos ins Spiel. Was in dieser Erzählstruktur kein bisschen aufgesetzt, sondern höchst überzeugend wirkt.

Angela Baumgart hat die Bühne mit einer verglasten Kuppel versehen, durch deren Fenster man die Welt sehen kann. Conny Klar hat animierte Videos produziert, die das Dorf zeigen oder auch die Unterwasserlandschaft, wenn sich die Jungs in die (metaphorische) Bibliothek Nemos zurückziehen.

Die theaterwirksame Musik wechselt zwischen ruppig unterlegtem Parlando, atmosphärischen Momenten der Besinnung und Paukenschlägen der Zuspitzung. Der zwischen Traum und Wirklichkeit changierende Raum bietet dafür eine kongeniale Entsprechung. Noa Frenkel ist mit beiden Mutterrollen gefordert. Reuben Willcox verkörpert den Pastor und den einen noch vorhandenen Familienvater. Rinnat Moriah komplettiert als Eva-Lisa das intensiv agierende Protagonisten-Ensemble.

Dr. Joachim Lange

„Kapitän Nemos Bibliothek“ (2022) // Oper von Johannes Kalitzke nach dem gleichnamigen Roman von Per Olov Enquist

Infos und Termine zu weiteren Aufführungen beim Koproduktionspartner Bregenzer Festspiele

Preußens Gloria

Bonn / Theater Bonn (April 2022)
Giacomo Meyerbeers Singspiel „Ein Feldlager in Schlesien“

Bonn / Theater Bonn (April 2022)
Giacomo Meyerbeers Singspiel „Ein Feldlager in Schlesien“

„Ein Feldlager in Schlesien“ ist ein Singspiel mit historischer Karriere. 1844 kam es als Auftragswerk an Giacomo Meyerbeer, den damaligen Generalmusikdirektor der Berliner Hofoper, das erste Mal zu Bühnenehren. Der weltläufige, in Paris wie in Berlin populäre Komponist feierte damit nicht nur das nach einem Brand wiedererrichtete Haus, sondern glorifizierte gleich ganz Preußen. Mit dem „Alten Fritz“ und ein paar Anekdoten aus dessen Leben als Flötenspieler und Kriegsherr im Zentrum und dem Siebenjährigen Krieg als historischem Hintergrund. Schon, weil der „Dessauer Marsch“ und eine unglaubliche Ballung von martialischem „Hurra!“-Patriotismus in einer hemmungslosen Militär-Revue den mittleren Akt mit dem eigentlichen Feldlager dominieren und König Friedrich II. als aufgeklärter Geist, cleverer Feldherr und umsichtiger Landesvater ausnehmend gut wegkommt, avancierte das Werk für viele Jahrzehnte zur preußischen Nationaloper für alle Jubel-Fälle.

Ende des 19. Jahrhunderts verschwand sie jedoch von der Bildfläche. Im von Preußen dominierten Reich hatte Meyerbeers Widersacher Richard Wagner die erdrückende Übermacht. Im 20. Jahrhundert schließlich sorgte der Rassenwahn der Nazis dafür, dass Meyerbeer heute zum Objekt von Ausgrabungs-Ehrgeiz wurde. So ist das „Feldlager“ ein Musterbeispiel für den „Fokus ’33“, mit dem sich das Theater Bonn solchen Werken widmet.

Aktuell musste das Haus sich pandemischen Querschlägen erwehren und brauchte die Nerven für vier (!) Anläufe zur Premiere. Dann kam auch noch der Überfall auf die Ukraine dazwischen, der Friedrichs Krieg um Schlesien in eine beklemmende Nähe rückt. Jakob Peters-Messer bewältigt diese Herausforderung mit intelligentem Geschick. Ein Chronist steuert im Habitus eines Regisseurs bei der Arbeit Erhellendes bei. Der erste Akt, in dem der König mit Hilfe seiner Untertanen vor einer Gefangennahme bewahrt wird, ist so singspiel-unterhaltend wie der dritte, für den Sebastian Hannak (Bühne) ein Sanssouci-Vorzimmer von oben einschweben lässt. Der König ist auch da nur durch sein Flötenspiel präsent und sorgt für ein Happy End, bei dem die ganze Familie seiner Retter gut bedient wird. Der militärische Mittel- wird zum Balanceakt. Den eskalierenden „Hurra!“-Patriotismus vorzuführen und die realen Folgen für die Opfer zu zeigen, gelingt durch eine Verlegung der Aufmarsch-Fläche für die Soldaten über die Reihen mitten im Zuschauerraum. Der Chor bewältigt das Enthüllen hinter der Fassade glänzend.

GMD Dirk Kaftan hält das musikalische Feuerwerk stets im Zaum und lässt Meyerbeers musikalischen Einfallsreichtum funkeln. Tobias Schabel profiliert den Hauptmann a.D. Saldorf als preußischen Muster-Untertanen, Elena Gorshunova glänzt als dessen Pflegetochter Vielka vor allem mit ihren Koloraturen und Jussi Myllys wird als etwas schlichter Conrad eher unfreiwillig zum Helden bei der Rettung des Königs. Fazit nach viel „Heil!“-Gebrüll: eine siegreiche Ausgrabung.

Roberto Becker

„Ein Feldlager in Schlesien“ (1844) // Singspiel von Giacomo Meyerbeer

Infos und Hintergründe zu „Fokus ’33“ auf der Website des Theaters

Kleines Haus mit großer Wirkung

Landshut / Landestheater Niederbayern (April 2022)
Wagners „Walküre“ setzt den Niederbayerischen „Ring“-Zyklus fort

Landshut / Landestheater Niederbayern (April 2022)
Wagners „Walküre“ setzt den Niederbayerischen „Ring“-Zyklus fort

Schon 2016 ließ das Landestheater Niederbayern mit einer Neuinszenierung von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ in Landshut aufhorchen. Nach diesem Erfolg beschloss Intendant Stefan Tilch, auch den „Ring des Nibelungen“ in Szene zu setzen. 2019 feierte „Das Rheingold“ Premiere, nun geht es nach zweijähriger Covid-Verzögerung mit der „Walküre“ weiter. Und die gerät zum beglückenden Erlebnis. Was nicht zuletzt an einer sich weitgehend aus dem Stück heraus definierenden, unprätentiösen und auf Wagners untrügliches Gespür für großes Musiktheater vertrauenden Herangehensweise liegt. Mit beschränkten Mitteln kreieren Regisseur Tilch, Bühnenbildner Karlheinz Beer und Kostümbildnerin Ursula Beutler einen spannenden und emotional berührenden Abend. Florian Rödl liefert dazu behutsame, stets szenisch interpretativ eingesetzte Videos, Sunny Praschs Choreografie rundet die exzellente Personenregie ab.

Das „Rheingold“-Bühnenbild einer Bibliothek als Walhall wird fortgeführt und bildet in diversen Anordnungen die Basis für die Inszenierung. Siegmund und Sieglinde finden in einem sich zum emotionalen Rausch steigernden ersten Aufzug zueinander. Wotan wird bei der Schwertgewinnung (zwei Stahlkrallen) übermächtig hinter Siegmund sichtbar – eindrucksvoll! Fricka ist eine poppige, fesche junge Frau, die genau weiß, was sie will, und ihrem ebenfalls jungen Mann den Eid schneidig abgewinnt. Ihr extravagantes Kostüm ist ebenso apart wie die der Walküren in Weiß mit schwarzer, mystischer Ornamentik attraktiv und jenes von Wotan mit Wolfsfell stimmig. Gar nicht in die Ästhetik dieser Bilder passen die Handys der Walküren und die damit im zweiten Aufzug per WhatsApp projizierten derb-politischen Sprüche gegen die Energiepolitik in Niederbayern. Dann dürfte Hunding nicht mit einem vorsintflutlichen Hammer herumlaufen …

Peggy Steiner singt und spielt eine einnehmende Sieglinde. Der junge Einspringer Aaron Cawley passt als kämpferischer Siegmund bestens zu ihr, nicht immer intonationssicher, aber kraftvoll. Stephan Bootz verkörpert einen beeindruckend engagierten Wotan mit langem Atem für den dritten Aufzug. Yamina Maamar ist eine emphatisch agierende und wohlklingende Brünnhilde, Judith Gennrich die fordernde Fricka und Heeyun Choi ein rustikaler, kraftvoller Hunding. Das Oktett klingt im Ensemble gut. All diese Stimmen würden auch im Landshuter Theaterzelt keine Verstärkung durch Mikroports benötigen. Als die Verbindung bei Fricka im zweiten Aufzug abreißt, kann man hören, wie viel authentischer und intimer ihr vokaler Vortrag gerät.

Basil H. E. Coleman dirigiert die auf 61 Musiker im weiten Graben verstärkte Niederbayerische Philharmonie mit dynamischen Tempi und treffender Akzentuierung der dramatischen Momente, aber auch feiner Herausarbeitung der subtilen zwischenmenschlichen Szenen. Eine großartige musikalische Leistung.

Dr. Klaus Billand

„Die Walküre“ (1870) // Erster Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Theaters