Die 70. Schwetzinger SWR Festspiele starten mit einer Uraufführung im Rokokotheater des Schlosses. Der Auftrag dafür ging an Johannes Kalitzke. Da der Komponist auch ein gesuchter Dirigent ist, leitet er die Uraufführung seiner siebten Oper am Pult des Ensemble Modern natürlich selbst. Mit diesem Auftragswerk (in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen) erfüllte er sich den Wunsch, einmal Musiktheater für Puppen zu komponieren. Für die szenische Umsetzung ist Christoph Werner genau der richtige. Sein Hallenser Puppentheater gehört nicht nur zu den renommiertesten des Landes, er hat auch eigene Erfahrungen mit Musiktheater. Diesmal doubeln zwei seiner Puppen die beiden Hauptfiguren in Kalitzkes kunstvoll gebauter und mit elektronischen Beimischungen versehener Novität.

Die Vorlage für „Kapitän Nemos Bibliothek“ ist der gleichnamige Roman von Per Olov Enquist, aus dem Julia Hochstenbach ein bühnentaugliches Libretto destilliert hat, ohne dabei das rätselhaft Verstiegene dieser Selbstfindung zweier Jungen beim Erwachsenwerden gänzlich wegzubügeln. Diese sind nach ihrer Geburt vertauscht wurden. Im Alter von sieben Jahren wird der Irrtum behoben, damit die „göttliche Ordnung“ in der Dorfgemeinschaft wieder stimmt. Für die beiden ist das der Beginn einer Dauerkrise, in deren Verlauf jenes Haus, in dem erst einer, dann der andere daheim war, als ein Akt der Befreiung in Flammen aufgeht.

Die menschliche Gestalt der jungen Erwachsenen, die sich an diese Phase ihrer Kindheit erinnern, liefern der russische Countertenor Iurii Iushkevich als „Ich“ und Sopranistin Johanna Zimmer als „Johannes“ höchst glaubwürdig. In ihrer erinnerten kindlichen Gestalt kommen die von je zwei Puppenspielern geführten Puppendoubles als die jüngeren Alter Egos ins Spiel. Was in dieser Erzählstruktur kein bisschen aufgesetzt, sondern höchst überzeugend wirkt.

Angela Baumgart hat die Bühne mit einer verglasten Kuppel versehen, durch deren Fenster man die Welt sehen kann. Conny Klar hat animierte Videos produziert, die das Dorf zeigen oder auch die Unterwasserlandschaft, wenn sich die Jungs in die (metaphorische) Bibliothek Nemos zurückziehen.

Die theaterwirksame Musik wechselt zwischen ruppig unterlegtem Parlando, atmosphärischen Momenten der Besinnung und Paukenschlägen der Zuspitzung. Der zwischen Traum und Wirklichkeit changierende Raum bietet dafür eine kongeniale Entsprechung. Noa Frenkel ist mit beiden Mutterrollen gefordert. Reuben Willcox verkörpert den Pastor und den einen noch vorhandenen Familienvater. Rinnat Moriah komplettiert als Eva-Lisa das intensiv agierende Protagonisten-Ensemble.

Dr. Joachim Lange

„Kapitän Nemos Bibliothek“ (2022) // Oper von Johannes Kalitzke nach dem gleichnamigen Roman von Per Olov Enquist

Infos und Termine zu weiteren Aufführungen beim Koproduktionspartner Bregenzer Festspiele