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Rezensionen 2023/05

Lebenskunst in Krisenzeiten

Großkochberg / Liebhabertheater Schloss Kochberg (Juni 2023)
Das Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“

Großkochberg / Liebhabertheater Schloss Kochberg (Juni 2023)
Das Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“

Im idyllisch in der Rudolstädter Gegend gelegenen Liebhabertheater, gegründet von Carl von Stein, dem Sohn von Goethes Freundin Charlotte, findet alljährlich ein Sommerfestival am authentischen Ort historischer Aufführungspraxis statt: gehörig zu Schloss Kochberg, umgeben von einem schönen Landschaftspark und in ländlicher Umgebung verortet. In diesem Jahr steht das Festival unter dem Thema „Lebenskunst“. Um Lebenskunst geht es auch im Opern-Pasticcio „Auf der Suche nach der besten Welt“, in einer thematischen Verbindung bis zur Gegenwart, kreisend um das Leben im Krieg, in Krisen und Klimakatastrophen. Es ist eine Koproduktion des Liebhabertheaters Schloss Kochberg und der lautten compagney Berlin, produziert von Silke Gablenz-Kolakovic, der Ur-ur-ur-Enkelin Carl von Steins.

Die Handlung, geschrieben von Regisseur Nils Niemann, Spezialist für szenische Aufführungspraxis und barockes wie klassisches Theater, besteht aus Briefen und den Lebenserinnerungen des Theatergründers Carl von Stein (1765-1837), der auch selber auf der Bühne durch sein Leben und seine Zeit führt. Schauspieler Harald Arnold, der auch schon als Sänger in Erscheinung getreten ist, interpretiert diese Partie hervorragend in Sprechweise, mimischem Ausdruck und schauspielerischer Aktion bis hin zu kleinen Gesangseinlagen. Der wahre Carl von Stein war es auch, der das seiner Familie gehörende Rittergut von 1796 bis 1830 in einen Musenhof verwandelte. Aber auch auf sein Leben hatten Krisen, der Napoleonische Krieg und Missernten wie Hungersnöte, aber auch die eigene Verschuldung Einfluss. Über diese von außen auf Carl von Stein einwirkenden Gegebenheiten wird der Faden in die Gegenwart gespannt.

Darum ranken sich wie Blumen die 22 einzelnen, passend zum Handlungsverlauf arrangierten und oftmals zu Unrecht unbekannten Arien, Duette und instrumentalen Musikstücke der barocken, klassischen und romantischen Komponisten. Es erklingen, neben Instrumentalstücken, Ausschnitte aus den Singspielen „Der Dorfjahrmarkt“ von Benda, „Die Dorfdeputierten“ und „Der Abend im Walde“ von Wolf, „Das Jahrmarktsfest von Plundersweilern“ von Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach, „Der Aerndtekranz“ von Hiller, „Die beiden Pädagogen“ von Mendelssohn-Bartholdy, aber auch aus Galuppis komischer Oper „L’Arcadia in Brenta“, Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“, der Kantate „Die Landlust“ von Telemann sowie einige Kunstlieder von Benda, Eberwein, Methfessel und Carl Maria von Weber.

Mit leuchtendem, hellem Sopran, deutlicher Diktion und zeitgemäßem Spiel interpretiert Anne Schneider die Frauenpartien, während Christopher B. Fischer herausragend wortdeutlich, mit mimischer Finesse und brillantem Tenor die Männerpartien verkörpert. Die Inszenierung setzt sich aus historischen Gesten, schauspielerischen Aktionen und Interaktionen der drei Protagonisten zusammen. Die in historisch zeitgemäßen Kostümen ausstaffierten Darstellenden (Kostüme: André Markov) müssen mit der Hitze kämpfen. Vielleicht hätten etwas leichtere Stoffe dem zumindest etwas Abhilfe schaffen können. Ein Bühnenbild ist nicht vorhanden, dafür aber viele zeittypische Requisiten. Es spielen ausdrucksstark und differenziert von der Balustrade herab acht Mitglieder der bekannten lautten compagney Berlin, in der Musikdramaturgie von Wolfgang Katschner, musikalisch geleitet von Birgit Schnurpfeil. Das Publikum applaudiert sehr angetan.

Dr. Claudia Behn

„Auf der Suche nach der besten Welt – ein Opern-Pasticcio über Musen, Acker und Bankrott“ (2023)

Infos und Termine auf der Website des Liebhabertheaters Schloss Kochberg

Eine Pyramide aus Licht

Verona / Arena di Verona (Juni 2023)
Stefano Poda stellt sich Zeffirellis „Aida“-Erbe

Verona / Arena di Verona (Juni 2023)
Stefano Poda stellt sich Zeffirellis „Aida“-Erbe

Giuseppe Verdis „Aida“ ist ja ein Kammerspiel extremer Gefühle, mit fünf Duetten und drei Arien, denen gerade mal zwei große Chorszenen gegenüberstehen. Doch der Anlass der Komposition (ein Auftrag zur Eröffnung des Suezkanals 1871) und nicht zuletzt auch die opulenten Inszenierungen machen das Werk genauso zum Massenspektakel – Paradebeispiel dafür sind die bald 750 (!) Aufführungen im antiken Riesenoval der Arena di Verona, dreimal mehr als irgendeine andere Oper dort erlebt hat. Idiomatisch sind die Pyramiden, Palmblätter und Sphinxen, nicht erst in der seit 2002 tonangebenden Deutung von Regie-Altmeister Franco Zeffirelli (der übrigens, passend zur aktuellen 100. Ausgabe der Festspiele, im Februar seinerseits 100 Jahre alt geworden wäre).

Keine leichte Aufgabe also für Stefano Poda, den Opern-Ästheten, der wie immer neben der Regie auch Bühne, Kostüme, Choreografie und Licht gestaltet hat. Er will beides nicht, nicht die feine psychologische Ausdeutung und erst recht nicht den Orientkitsch. Sein Anliegen, so lesen wir im Programmbuch, ist es, „in einer von Gegenständlichkeit und Realismus beherrschten Welt […] Raum für die Seele und Träume zu schaffen“, jede(r) solle die eigenen „meditativen Fähigkeiten wecken“ können. Das schafft er zweifellos: Jeder Augenblick der dreieinhalb Stunden könnte als Feng-Shui-Wandposter herhalten, in leuchtender, weiß-schwarz-roter Stefano-Poda-Optik, mit Lichtpyramide, Silberkostümen und einer riesigen schiefen Plexiglas-Ebene als Hauptelement.

Jedoch – die Bühne als Spielraum für Theater hat ja eine Funktion, es ist nicht egal, wo und wie die Figuren sich darin bewegen, wo sie stehen, wo auf- und abgehen. Und hier geht Poda das Stück verloren. Wenn der Äthiopierkönig Amonasro seine Tochter Aida bestürmt, von ihrem Liebsten Radamès die Route des ägyptischen Heeres zu erfragen, wälzen sich unzählige halbnackte Zombies in „Edle Wilde“-Optik (das sind seine toten Soldaten) dekorativ am Boden; sie (als Sklavin!) schreitet aus irgendwelchen Gründen royal durch ein Lichtstab-Spalier einer halben Hundertschaft Statisten; in den oberen Arena-Rängen turnen immer wieder schwarz oder weiß gewandete Tänzer, wer wer sein soll, geht meist unter im Gewühl. Sehr, sehr schön sieht das aus und dabei oft sehr, sehr beliebig.

Und so hat diese „Aida“ ihre stärksten Momente, wenn keine hübsch mäandernden Massen stören: Die beiden Duette von Aida und Radamès, besonders auch das der Pharaonentochter Amneris mit dem Heerführer – das geht ans Herz. Die Rollen hat Sängerin-Intendantin Cecilia Gasdia perfekt gecastet (mit jeweils bis zu sechs Besetzungen über den „Aida“-Sommer). In der besuchten Vorstellung tönen Abramo Rosalen (König), Roman Burdenko (Amonasro) und Alexander Vinogradov (Ramfis) wuchtig und bestens verständlich, Angelo Villari (Radamès) stellt sich seiner Aufgabe zunehmend tenorstrahlend und spielfreudig, Monica Conesa füllt die Titelrolle nie forcierend, mit warmem Kern, starken Ausbrüchen und berührenden Piani. Meisterhaft gebietet schließlich Olesya Petrova über die riesige Tessitura der Amneris, mit dunkler Tiefe und flackernder Höhe, dringlich, emotional – und mit schlicht erstaunlichen Stimmreserven. Dirigent Marco Armiliato hat das Gewoge im weiten Rund ausladend-präzise im Griff, jedenfalls meistens.

Ob eine Verdis Oper nur als Folie benutzende, humanistisch-ästhetische Vision dem Arena-Publikum gewichtig genug ist, die über Jahrzehnte liebgewonnenen Palmwedel dauerhaft abzulösen? Das werden die kommenden Jahre zeigen.

Stephan Knies

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Arena di Verona

Ein Tanz mit Marylou

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Juni 2023)
Überbordende Vitalität in Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Juni 2023)
Überbordende Vitalität in Paul Abrahams „Märchen im Grand-Hotel“

Mit Paul Abrahams „Ball im Savoy“ begann Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin seine wundersame Entdeckungsreise in die Gefilde der Unterhaltungskultur um 1930. Sie leitete eine nachhaltige Rehabilitation dieses im Dritten Reich verfolgten, im amerikanischen Exil psychisch unheilbar erkrankten jüdischen Komponisten ein: Nicht nur „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und eben „Ball im Savoy“, seine drei damals besonders populären Operetten, schmücken regelmäßig die Spielpläne deutschsprachiger Bühnen, auch das 1934 in Wien uraufgeführte musikalische Lustspiel „Märchen im Grand-Hotel“. Im Staatstheater Cottbus sorgt es jetzt in einer aus Nürnberg übernommenen, teilweise überarbeiteten Produktion für den umjubelten Saisonausklang – in der Regie von Otto Pichler, der als Choreograf in Koskys Stammteam wesentlich zum Erfolg der Operetten-Revivals beitrug.

Das Stück beginnt in Hollywood, wo Filmproduzent Sam Makintosh nach einer neuen Story mit Happy End sucht. Daher reist Tochter Marylou in ein mondänes Grand-Hotel an der Côte d’Azur, in dem die von Geldsorgen geplagte spanische Prinzessin Isabella mit ihrer Entourage residiert. Als sich Albert, der als Kellner arbeitende Sohn des Hotelbesitzers, unstandesgemäß in sie verliebt, sind turbulente Verwicklungen vorprogrammiert. Im Finale finden Adel und neureiches Bürgertum zueinander und Marylou hat ihren Plot.

In Jan Freeses Bühnenbild trifft amerikanische Filmwelt auf europäische Historie. Ein im Hintergrund thronender Riesenaffe symbolisiert Hollywood – „King Kong“, der legendäre Horrorschinken von 1933, lässt grüßen –, während im Hotelsaal Fragonards Rokokogemälde „Die Schaukel“ auf die kommenden amourösen Wirrungen einstimmt. Otto Pichler lässt die Geschichte mit überbordender Vitalität ablaufen und nutzt jede Gelegenheit für effektvolle Revue-Einlagen, die, ob Burlesque-Show oder energetische Steppnummer, eine Steilvorlage für das Cottbusser Ballett sind. Albert alias Jörn-Felix Alt, in jeder Geste ein Romantiker, macht der Infantin auf so treuherzig-unbeholfene Weise den Hof, dass ihm alle Sympathien zufließen. Anna Martha Schuitemaker bietet vokale Noblesse und überspielt Isabellas Gefühlschaos mit hochmütigem Glamour. Hardy Brachmann, Heiko Walter, Andreas Jäpel und Jens Janke erweisen sich als Komiker ersten Ranges, übertroffen noch von Gesine Forberger. Die Sopranistin, sonst oft im dramatischen Fach eingesetzt, demonstriert als Hofdame, dass sie auch kabarettistische, erotisch unterfütterte Vortragskunst mit pointierter Sprachkultur beherrscht. Bleibt Marylou. Maria-Danaé Bansen scheint direkt vom Broadway eingeflogen zu sein. Wie ein Wirbelwind fegt sie über die Bühne, singt und tanzt mit grenzenloser Energie, sodass jeder ihrer Auftritte zum Showstopper gerät. Das Philharmonische Orchester des Staatstheaters unter Leitung von Johannes Zurl bringt Abrahams unwiderstehliche Melange aus europäischem Operettenschmelz und swingendem Jazz locker und fetzig über die Rampe. Kurzum: Cottbus hat seine Operetten-Attraktion.

Karin Coper

„Märchen im Grand-Hotel“ (1934) // Lustspiel-Operette von Paul Abraham

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Cottbus