Giuseppe Verdis „Aida“ ist ja ein Kammerspiel extremer Gefühle, mit fünf Duetten und drei Arien, denen gerade mal zwei große Chorszenen gegenüberstehen. Doch der Anlass der Komposition (ein Auftrag zur Eröffnung des Suezkanals 1871) und nicht zuletzt auch die opulenten Inszenierungen machen das Werk genauso zum Massenspektakel – Paradebeispiel dafür sind die bald 750 (!) Aufführungen im antiken Riesenoval der Arena di Verona, dreimal mehr als irgendeine andere Oper dort erlebt hat. Idiomatisch sind die Pyramiden, Palmblätter und Sphinxen, nicht erst in der seit 2002 tonangebenden Deutung von Regie-Altmeister Franco Zeffirelli (der übrigens, passend zur aktuellen 100. Ausgabe der Festspiele, im Februar seinerseits 100 Jahre alt geworden wäre).

Keine leichte Aufgabe also für Stefano Poda, den Opern-Ästheten, der wie immer neben der Regie auch Bühne, Kostüme, Choreografie und Licht gestaltet hat. Er will beides nicht, nicht die feine psychologische Ausdeutung und erst recht nicht den Orientkitsch. Sein Anliegen, so lesen wir im Programmbuch, ist es, „in einer von Gegenständlichkeit und Realismus beherrschten Welt […] Raum für die Seele und Träume zu schaffen“, jede(r) solle die eigenen „meditativen Fähigkeiten wecken“ können. Das schafft er zweifellos: Jeder Augenblick der dreieinhalb Stunden könnte als Feng-Shui-Wandposter herhalten, in leuchtender, weiß-schwarz-roter Stefano-Poda-Optik, mit Lichtpyramide, Silberkostümen und einer riesigen schiefen Plexiglas-Ebene als Hauptelement.

Jedoch – die Bühne als Spielraum für Theater hat ja eine Funktion, es ist nicht egal, wo und wie die Figuren sich darin bewegen, wo sie stehen, wo auf- und abgehen. Und hier geht Poda das Stück verloren. Wenn der Äthiopierkönig Amonasro seine Tochter Aida bestürmt, von ihrem Liebsten Radamès die Route des ägyptischen Heeres zu erfragen, wälzen sich unzählige halbnackte Zombies in „Edle Wilde“-Optik (das sind seine toten Soldaten) dekorativ am Boden; sie (als Sklavin!) schreitet aus irgendwelchen Gründen royal durch ein Lichtstab-Spalier einer halben Hundertschaft Statisten; in den oberen Arena-Rängen turnen immer wieder schwarz oder weiß gewandete Tänzer, wer wer sein soll, geht meist unter im Gewühl. Sehr, sehr schön sieht das aus und dabei oft sehr, sehr beliebig.

Und so hat diese „Aida“ ihre stärksten Momente, wenn keine hübsch mäandernden Massen stören: Die beiden Duette von Aida und Radamès, besonders auch das der Pharaonentochter Amneris mit dem Heerführer – das geht ans Herz. Die Rollen hat Sängerin-Intendantin Cecilia Gasdia perfekt gecastet (mit jeweils bis zu sechs Besetzungen über den „Aida“-Sommer). In der besuchten Vorstellung tönen Abramo Rosalen (König), Roman Burdenko (Amonasro) und Alexander Vinogradov (Ramfis) wuchtig und bestens verständlich, Angelo Villari (Radamès) stellt sich seiner Aufgabe zunehmend tenorstrahlend und spielfreudig, Monica Conesa füllt die Titelrolle nie forcierend, mit warmem Kern, starken Ausbrüchen und berührenden Piani. Meisterhaft gebietet schließlich Olesya Petrova über die riesige Tessitura der Amneris, mit dunkler Tiefe und flackernder Höhe, dringlich, emotional – und mit schlicht erstaunlichen Stimmreserven. Dirigent Marco Armiliato hat das Gewoge im weiten Rund ausladend-präzise im Griff, jedenfalls meistens.

Ob eine Verdis Oper nur als Folie benutzende, humanistisch-ästhetische Vision dem Arena-Publikum gewichtig genug ist, die über Jahrzehnte liebgewonnenen Palmwedel dauerhaft abzulösen? Das werden die kommenden Jahre zeigen.

Stephan Knies

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Arena di Verona