Halle/ Händel-Festspiele und Oper Halle (Juni 2025) Händels „Agrippina“ in der Gegenwart
Die 1709 in Venedig uraufgeführte Oper „Agrippina“ ist nicht Händels erste, aber sein erster gefeierter Erfolg in Italien. Musikalische Virtuosität mit den zeittypischen Arien-Schmankerln umranken eine Intrigenstory vom Feinsten. Wie aus den Hinterzimmern der Macht von heute – oder aus dem Oval Office im Weißen Haus.
Hausherr Walter Sutcliffe hat die Geschichte um die ehrgeizige Agrippina, die unbedingt ihren Sohn Nero auf den Cäsarenthron hieven will, den Römern entrissen und nach Las Vegas verlegt. Da wird das alte Rom zum Spielcasino „Caesar Palace Entertainment“ und der Kampf um den Thron heruntergedimmt auf einen Kampf ums Unternehmen. Aber ein totgeglaubter Kaiser wie Claudius, der plötzlich wieder auftaucht, ist nicht ohne Verlust auf einen Firmenboss reduzierbar. Auch wenn als Referenz an den Zeitgeist aus dem Agrippina-Helfer Narciso eine Narcisa wird, dauernd gekokst und gegrapscht und von Nerone auch mal ein Männerstrip beigesteuert wird: Stringent gelungen ist diese Las-Vegas-Story nicht.
Dabei hat sich Sutcliffe mit Aleksandar Denić diesmal sogar einen Bühnenbild-Star nach Halle geholt. Als Partner von Frank Castorf etablierte er sich als Genie seines Fachs. Für „Agrippina“ stellt er ein – aus seinem Rahmen fallendes – artifizielles Objekt auf die Drehbühne. Mit dem Leuchtschriftzug „Flamingo“, einem Riesensofa und einer Architektur, die an diverse Experimente mit Sichtbeton erinnert, begrenzt durch Silberglamour im Hintergrund. Das dreht und blinkt so vor sich hin und wird vom Chor (Einstudierung: Bartholomew Berzonsky) bevölkert, der mit seiner Secondhand-Las-Vegas-Mode, die vor allem lasziv wirkt, irgendwie klar kommen muss (Kostüme: Frank Schönwald). Ein Clou bleibt die grandiose Revuetreppe, die ihr Wirkungspotenzial entfaltet, wenn Romelia Lichtenstein von hier aus ihre Bosheiten vom Stapel lässt oder sich ausführliche Arien-Sorgen macht.
Da die Oper nach ihr benannt ist, geht es in Ordnung, dass sich die Interpretin der Titelrolle als charismatisches Zentrum behauptet und dem Publikum vokalen Genuss mit Tiefgang liefert. Außerdem ist sie eine perfekte Komödiantin – im Stück die Kanaille, aber eine, mit der man trotzdem sympathisiert, weil man sich über ihr Spiel auch tatsächlich amüsieren kann. Vom übrigen Ensemble kommen Countertenor Leandro Marziotte als Nerone und Vanessa Waldhart als die allseits begehrte Poppea vokalem Festspielniveau am nächsten. Am Pult des am Vortag mit dem Händel-Preis der Stadt Halle ausgezeichneten Festspielorchesters steht mit Laurence Cummings, dem ehemaligen langjährigen Chef der Internationalen Händel-Festspiele in Göttingen, einer der versierten Barock-Spezialisten, dem die Hallenser Musiker willig folgen. Gäste am Pult sind eben eine Festspiel-Tugend – vielleicht wären sie es auch mal wieder bei der Regie.
Dr. Joachim Lange
„Agrippina“ (1709) // Dramma per musica von Georg Friedrich Händel