Es ist eine der großen, metaphysisch und philosophisch aufgeladenen Welt-Sekunden im „Ring des Nibelungen“: Brünnhilde erwacht nach langem Schlaf, geweckt von Siegfried, dem Helden, dem Einzigen, der den Feuerring um ihren Felsen durchbrechen konnte, der sie alsbald von der keuschen Unsterblichkeit in die sterbliche Liebe stürmend drängen wird, um sie und sich selbst zu erwecken. Richard Wagner hat dafür das kriechende Vierton-Motiv, das zuerst den Tarnhelm der Verwandlung beschreibt und dann dessen Ergebnis, nämlich den zum Drachen verwandelten Riesen Fafner, seinerseits verwandelt: Hier erklingt es riesenhaft vergrößert, auf Minuten ausgedehnt, statt in der Tiefe der Tuba in höchsten Höhen von Streichern und Holzbläsern mit Harfen-Umspielung: „Heil dir, Sonne! Heil dir, Licht!“ So ist die schwarze Magie Alberichs zur weißen Magie dieses den Lauf der „Ring“-Welt für immer verändernden Erwachens geworden.

Aufgabe an die Regie: Wie wirkt dieser „hehre Augenblick“ (wie auch viele andere) nicht lächerlich, pathetisch oder einfach nichtssagend? Anna Kelo denkt diese Fragen im neuen „Siegfried“ an der Finnischen Nationaloper (Suomen kansallisooppera) allein von ihren Figuren aus: Was geht in denen vor? Ganz menschlich, ganz nachvollziehbar: Brünnhilde bestaunt ihr Haar, das in den Jahren des Schlafes lang geworden ist. Oder Siegfried, etwas später: Er ist überfordert damit, dass die ersten weiblichen Brüste, die er sieht, zwischen seinen Beinen etwas auslösen, was er nicht versteht und nicht kontrollieren kann. Und wann haben wir anfangs des ersten Aufzuges schon einmal so klar gesehen, dass Siegfried und sein Ziehvater wider Willen Mime symbiotisch voneinander abhängig sind? Statt ambitioniertem Konzept (das bei den letzten „Ring“-Neudeutungen so oft gescheitert ist) bringt Kelo feinstes Personenregie-Handwerk mit – „endlich“, möchte man fast ausrufen. Sie erzählt einfach schlüssig und vertraut darauf, dass das Werk die Überwältigung schon von alleine hinbekommt.

Ihr kongenialer Partner in dieser Herangehensweise: Dirigent Hannu Lintu. Er gestaltet ohne jeden Schwulst und fast sachlich einen kernigen, farbigen, bisweilen gar eleganten Orchesterklang. Seine Musikerinnen und Musiker spielen virtuos, leidenschaftlich und agil, brauchen über weite Strecken der fünf Stunden keinen internationalen Vergleich scheuen.

Exquisit ist auch das fast ausschließlich finnische Sänger-Ensemble. Bemerkenswert gut verständlich, in der Figur herrlich verdruckst, dabei stimmlich und spielerisch auf der Höhe: Dan Karlström als Mime und auch Jukka Rasilainen als Alberich. Tommi Hakala verleiht seinem Wanderer Stimmbalsam und schiere Kraft, am eindrucksvollsten gelingt ihm die Szene mit Erda (gut und mit weiter Tessitura: Sari Nordqvist). Daniel Brenna überzeugt nicht immer mit Klangschönheit, aber mit Tenor-Metall (und das ist nunmal die Währung für eine Siegfried-Karriere) und großer spielerischer Überzeugungskraft. Johanna Rusanen schließlich beweist, dass sie dieser kurzen, mörderischsten der drei Brünnhilde-Partien so gewachsen ist wie derzeit wenige andere Sängerinnen.

Nicht wenig zum Gelingen dieses Abends trägt Mikki Kunttu bei mit seinem etwas konventionellen und mit Video-Schnickschnack versehenen, doch prächtigen Bühnenbild und vielmehr noch mit einer fabelhaften Lichtregie. Dass dieser „Siegfried“ nichts weniger ist als ein nordisches Opern-Ereignis, hat das jubelnde Publikum aber zuallererst Anna Kelo und Hannu Lintu zu verdanken.

Stephan Knies

„Siegfried“ (1876) // Zweiter Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website der Finnischen Nationaloper