Das Programmheft der Staatsoper Hannover ist übertitelt mit „CARMEN. Georges Bizet/Marius Felix Lange“, als seien beide Komponisten gleichwertig an der musikalischen Gestaltung des Stückes beteiligt. Regie führte Barbora Horáková, mit dramaturgischer Unterstützung durch Martin Mutschler. Im Innern des Heftes erfährt man, dass es sich um eine musikalische „Neubearbeitung“ des Bizet-Klassikers durch Lange handelt. Dieser will den Protagonisten Carmen und Don José etwas von ihrer spezifischen Identität zurückgeben. Das wäre wohl eher die Sache der Regisseurin gewesen. Hier kommt es aber musikalisch zum Ausdruck, indem Lange nicht nur diverse und harmonisch kaum passende Versatzstücke in Bizets Partitur hineinkomponiert, sondern selbst geschlossenste und auch beliebteste Nummern wie die Musik zur Habanera und der Blumenarie, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen, mit Dissonanzen unterspielt. Dazu benutzt er in erster Linie das Vibraphon und Röhrenglocken, die nach seiner Ansicht „weitere Klangfarben“ erzeugen, aber auch ein riesiges Xylophon sowie das Schlagwerk. So konnte sich der Zuhörer zu keinem Zeitpunkt der Integrität der erwarteten Musik Bizets sicher sein. Entsprechend dünn war dann auch der Streicherklang, wofür der ansonsten umsichtig agierende Stephan Zilias am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover wohl nichts konnte.

Der Streicherklang war in dieser Produktion aber auch gar nicht so wichtig. Denn was Barbora Horáková auf der Bühne von Thilo Ullrich mit den Kostümen von Eva-Maria Van Acker, dem Licht von Sascha Zauner, den Videos von Sergio Verde sowie der Choreographie von James Rosental abzog, wich deutlich von dem ab, was – immer noch – unter der Kunstgattung Oper verstanden wird; mit der eigentlich gar nicht so abwegigen Idee, das Stück in der Springsteen`schen „darkness at the edge of town“, also in einer Art Bronx oder Soho, spielen zu lassen, in einem verlassenen Stadion, wo man noch das verblichene Basketballfeld erkennen kann. Hier geht es äußerst hoch her, was den Auftritt der sich dort herumtreibenden jungen Leute, gesellschaftlicher Underdogs, angeht. Statt des Chores läuft aus Hygienegründen eine Ballett-Truppe mit Mundschutz auf, die neben akrobatischen Einzelleistungen gleichwohl sehr laut wird und am Ende des Torero-Liedes sogar aus voller Kehle mitbrüllt (und weiteres in diese Richtung). Zu allem „umkompositorischen“ Überfluss lassen Sprecher immer wieder Carmens und Josés Gedanken über Lautsprecher erklingen…

Die junge Russin Evgenia Asanova gab die Carmen als aufreizenden Teenie mit einem schon recht ausdrucksstarken Mezzo, guten Klangfarben und ebenso klarer Diktion. Rodrigo Porras Garulo spielte und sang einen engagierten und emphatischen Don José. Germán Olvera gab den Escamillo mit ansprechendem, nicht zu großem Bariton. Der stimmliche Star des Abends war aber Barno Ismatullaeva, die der Micaëla nahezu himmlische, facettenreiche und lyrische Töne verlieh und dabei noch große Empathie vermittelte.

Wenn das, was man an diesem Abend in Hannover erlebte, noch Oper sein soll und der Trend, hemmungslos in Partituren einzubrechen und sie nach Belieben umzuschreiben, weiter gehen sollte, steht es schlecht um diese Kunstgattung. Man sah und hörte in Hannover statt Oper ein Potpourri aus dramatischem Theater, Oper und Musical, eine Mischform, die nicht überzeugen konnte.

Klaus Billand

„Carmen“ // Oper von Georges Bizet (1875) in einer musikalischen Bearbeitung von Marius Felix Lange (2020)