Händels „Teseo“ könnte auch „Medea“ heißen. Die Version aber, die Martin G. Berger jetzt von der geplanten Inszenierung für die gecancelten Händel-Festspiele auf Corona-Bedingungen heruntergedimmt hat, auf jeden Fall. Samt der hinein inszenierten Abstände und einem auf ein Dutzend Musiker reduzierten, kammermusikalisch präzisen Händelfestspielorchester. Berger und Dramaturg Philipp Amelungsen griffen beherzt in die Stückstruktur ein. Sie machten aus allen weiblichen Nebenrollen Medea-Alter-Egos. Für diesen 90-minütigen Abend würde der Arbeitstitel „Medea.Reflexionen“ passen. Neben der zentralen Medea2020 wird aus Agilea Medea1958 (Vanessa Waldhart) und aus Clizia Medea1880 (Yulia Sokolik). Dazu kommt noch eine stumme Medea1619. Damit ist die Zeitreise zum Thema der exemplarisch gegen die Männerherrschaft im Patriarchat aufbegehrenden Frau vorgegeben. Das männliche Gegenüber dieser aufgestockten Frauenpower sind Jason (bei Händel Teseo) und Medeas Vater (Ki-Hyun Park), stumme Zugaben die Kinder Medeas und eine attraktive Affäre Jasons. Kostümbildnerin Esther Bialas hat daraus eine aufgedonnerte Sekretärin gemacht, die lieber Marilyn Monroe wäre und es mit der Muster-Hausfrau Medea1958 aufnimmt.

Musikalisch wird das Ganze bei Berger und Dirigent Attilio Cremonesi zu einem Pasticcio mit neu zusammengestellten Arien ohne eine von A nach B verlaufende Handlung. Die Inszenierung lotet vielmehr das Aufbegehren einer exemplarischen Medea verschiedener Epochen gegen die Männer aus, die aus dem patriarchalischen Bauplan der Gesellschaft die Legitimation für ihren triebgesteuerten Egoismus ableiten. Gegen Ende schicken diese Frauen, sozusagen kollektiv, lediglich Jason zum Teufel. Ist zwar auch keine (Ab-)Lösung des Patriarchats, aber schon etwas anderes als Kindermord aus Rache fürs Fremdgehen … Wenn zu Beginn die überlebensgroßen Medea-Alter-Egos auf den Zwischenvorhang vor dem abstrakten Hexagon-Wohnkonstrukt projiziert werden, das Sarah-Katharina Karl auf die Drehbühne gesetzt hat, spürt man die Absicht, alles fügt sich zu einem Ganzen.

Die zentrale Medea2020 ist mit Romelia Lichtenstein eine Sängerin, die sich die Geschmeidigkeit für virtuosen Händel-Gesang bewahrt hat und das voll ausspielt. Als smart gegelter Anzugträger von heute ist Sporanist Samuel Mariño (27) ein glasklarer Jason mit natürlichem Bühnencharisma. Unter normalen Bedingungen wäre ein solcher „Teseo“ in einer Hochburg der Händel-Pflege wohl nicht riskiert worden. Doch heutzutage leuchtet diese Version durchaus von innen – durch eine anregende Idee, klugen Umgang mit den Voraussetzungen, die Emotion der Musik und ein fabelhaftes Ensemble. Ungeteilter Beifall!

Joachim Lange

„Teseo“ (1713) // Georg Friedrich Händel; Spielfassung von Martin G. Berger