München hat eine Tradition mit speziellen Theaterformen: ein herrlich weites, edles Oval, in der zentralen Loge im Balkon ein paar Menschen, etliche weitere im weiten Rund – das waren die berühmten Separatvorstellungen für König Ludwig II. ab 1872. Ganz ähnlich wirkten jetzt die rund 300 Besucher der Premiere im Gärtnerplatztheater – eine kulturpolitische Absurdität im bis 2019 totalrenovierten Komplex mit der modernsten Lüftungsanlage aller Münchner Theater, während vollbesetzte Flieger vom Airport starten dürfen … Der dankbar herzliche Applaus schloss am Ende alle mit ein, auch wenn das Bühnenteam hörbar schwächeren Beifall registriert haben sollte. Das lag nicht an den Corona-Vorgaben, speziell den Distanz-Vorschriften für alle Bühnenfiguren. Regisseur Ben Baur hatte in Uta Meenens Kostümen das Werk in der zaristischen Gesellschaft angesiedelt, wo „Distanz“ zur gesellschaftlichen Konvention gehörte. So sangen die Bauernchöre schön brav und breit aufgestellt und ein Walzer wie eine Polonaise in St. Petersburg können ja durchaus mal mit sehnsuchtsvoll ausgestreckten Armen, aber ohne Handberührung getanzt werden (Choreinstudierung: Felix Meybier; Choreographie: Lillian Stillwell). Auch in der „Liebe“ galten ja Zucht und Ordnung, was Olga und Lenski temperamentvoll, Tatjana und Onegin weniger überzeugend steif vorführten. Wenn Baur das Ganze als Tatjanas „Traum zurück“ – von der ersten Pose im Vorspiel bis zur Schlussszene einschließlich irrealer Auftritte eines Tatjana-Kindes – zeigen wollte, dann blieb seine Lichtregie mit Michael Heidinger zusammen banal bis „nicht existent“, sein eigenes Bühnenbild spielte keine Rolle.

Ganz anders die musikalische Seite der Premiere. Der beim Umbau raffiniert bis zum Äußersten vergrößerte und akustisch verbesserte Graben bleibt für ein großes Tschaikowski-Orchester zu klein, Distanz für die Musiker: unmöglich. Die Lösung: Das Staatstheater leistete sich eine reduzierte Orchesterfassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow, einem selbst komponierenden Tschaikowski-Kenner. Die 24 Instrumentalisten brachten unter Chefdirigent Anthony Bramall nicht nur die großen Highlights der Partitur zum Klingen, sie gaben dem Ganzen einen Hauch von Salon-nahem Kammerkonzert, was „Tschaikowski-nahe“ klang. Eine gelungene Adaption über Corona-Beschränkungen hinaus. Deshalb hätten alle Sänger weniger „Premierenpower“ geben, noch mehr zum Partner statt ins leer tönende Theaterrund singen können. Dafür gelang Juan Carlos Falcón mit Triquets Couplet ein fein ziseliertes Kunststückchen vor allen anderen guten Nebenfiguren. Sava Vemić war ein volltönender Fürst Gremin mit alles überragender Bühnenerscheinung. Anna-Katherina Tonauers Olga klang mädchenhaft gegenüber der hörbar gereiften Camilla Schnoor. Deren Tatjana besaß Gefühlstiefe und gebändigte Leidenschaft, zurecht gab es viel Beifall für ihre Briefszene. Mathias Hausmanns runder, kerniger Bariton passte genau für den überheblichen Gesellschaftslöwen und -verächter Onegin. Tenor Lucian Krasznec musste in München gegen das seit 1962 (!) unübertroffene, todesverschattete Ideal von Fritz Wunderlichs „Wohin, wohin…“ als Lenski ansingen. Das gelang vom gehauchten Pianissimo bruchlos in den schmerzlichen Ausbruch – bravo! So bewies der Abend: Herrlich, wieder musikalisches Theater zu erleben. Und: Ein realitätsnahes Kunstministerium könnte locker 600 Besucher im Theaterrund erlauben!

Wolf-Dieter Peter

„Eugen Onegin“ (1879) // Pjotr I. Tschaikowski; reduzierte Orchesterfassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow