Es ist eine der heikelsten Programmierungen der laufenden Spielzeit: Sergej Prokofjews Vertonung von Lew Tolstois Romanepos „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper. Eine Kriegsoper über Napoleons Russland-Feldzug 1812, entstanden unter dem Eindruck von Hitlers Einmarsch 1941, stalinistisch unterfüttert, patriotisches Überwältigungstheater. Diesmal sind die Vorzeichen andere als in den „Vaterländischen Kriegen“: Der Aggressor kommt nicht von außen, der Aggressor des zynisch zur „Spezialoperation“ deklarierten Überfalls auf die Ukraine ist Russland selbst. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Sollte ein Werk wie dieses nach dem 24. Februar 2022 noch aufgeführt werden?

Die Antwort lautet Ja. Was GMD Vladimir Jurowski und Regisseur Dmitri Tcherniakov im Münchner Nationaltheater mit Blick auf ihr Heimatland in schlaglichtartigen Episoden zur Diskussion stellen, ist politisch relevantes Musiktheater auf der Höhe der Zeit: unbequem und lange nachhallend, ohne sich in vordergründig „einfachen“ Antworten zu verheddern. Prokofjews Oper war sein lebenslanges Schmerzenskind, monumentaler Torso im ständigen Ringen um die Gunst von Stalins Doktrin und bis zu seinem Tod der politischen Führung doch niemals „gut genug“. Dabei wird oft übersehen, dass „Krieg und Frieden“ in Opernform nicht nur trotzig-vaterländische Selbstbehauptung in hochproblematischem Sprachduktus ist, sondern in Tolstois Geiste auch immer noch ein Stück Weltliteratur. Es geht nicht nur um eine anonyme „Volksmasse“ im Ausnahmezustand, es geht auch um Menschen mit Träumen und Hoffnungen, die im Strudel der Kriegswirren ihren Halt im Leben verlieren.

Gerade damit tut sich Tcherniakov im ersten, dem „Friedensteil“ etwas schwer, indem er die individuelle Profilschärfe der Charaktere dem Gesellschaftspanorama unterordnet. Sein Bühnenbild ist der prachtvollen Säulenhalle im Moskauer „Haus der Gewerkschaften“ nachempfunden. Ein geschichts- und symbolträchtiger Ort, an dem Zaren Bälle veranstalteten, Stalin Schauprozesse abhielt und die Leichname von ihm, Lenin oder zuletzt Gorbatschow aufgebahrt wurden. Ist „Friedensteil“ in dieser Produktion überhaupt die richtige Bezeichnung? Wir erleben die höhnische Karikatur einer Gesellschaft, für die Krieg lange nur ein Smalltalk-Thema ist und die doch längst wie im Bunker schutzsuchend und zusammengepfercht dem Lauf der Dinge harrt. Herrscht draußen bereits Krieg? Wer ist der Feind? Gibt es ihn überhaupt oder zerstört sich dieser übersättigte Haufen an aufgespielt Mächtigen und dekadent Wahnsinnigen von innen heraus selbst? Die Parallelen zu Putins Russland sind zwischen den Zeilen zu finden und die Regie immer dann am stärksten, wenn die „Masse Mensch“ im deutlich hervorstechenden „Kriegsteil“ die Fratze des Tötens entlarvt – von Bootcamps über autoaggressiven Blutrausch bis hin zur Inszenierung der Napoleon-Szene als pervertierte Commedia dell’arte.

Vladimir Jurowski am Pult des Bayerischen Staatsorchesters leuchtet das Stilspektrum in Prokofjews Partitur extrem geschickt und kontrastreich aus, gibt sehnsuchtsvollen Lyrismen ebenso Raum wie den martialischen Volumenschlachten des Bayerischen Staatsopernchors, der als eigentlicher Hauptprotagonist des Abends die vernarbte russische Seele in all ihrer Widersprüchlichkeit herausschreit (Einstudierung: David Cavelius). Aus dem mehr als 40-köpfigen und durchweg überzeugend agierenden Ensemble ragen die expressive und seelenvolle Olga Kulchynska (Natascha), der warme und ergreifend innige Bariton von Andrei Zhilikhovsky (Andrej) und der empfindsame, später von Verbitterung durchzogene Schmelz von Arsen Soghomonyan (Pierre) hervor. Ein unter die Haut gehender, um einige glorifizierende Passagen gekürzter Kraftakt. Und die traurige Erkenntnis: 1812, 1941 und 2022 ähneln sich viel zu sehr.

Florian Maier

„Война и мир“ („Krieg und Frieden“) (1946) // Oper von Sergej S. Prokofjew

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

kostenfreier Stream bis 5. September 2023 auf ARTE Concert