Eine nächtliche Gasse, eine Frau, ein Mann – Schreie, Seufzer, Stöhnen, Schluchzen. Im Auditorium verstehen alle, was gemeint ist. Das ist der Prolog zu „Talestri, Königin der Amazonen“. Das Libretto für ihre 1760 in Schloss Nymphenburg und 1763 im Dresdner Reithaus am Taschenberg aufgeführte „Opera drammatica“ schrieb die Wittelsbacher Prinzessin Maria Antonia Walpurgis selbst. Vor 20 Jahren wurde „Talestri, regina delle Amazzoni“ von der Batzdorfer Hofkapelle wiederentdeckt. Jetzt gelangt sie mit Wolfgang Katschner, der in Nürnberg an seinen großen Erfolg mit Vivaldis „Bajazet“ anknüpft, erstmals an ein großes Opernhaus.

Ilaria Lanzino setzt in ihrer deutlichen Inszenierung Bezüge zur Gegenwart. Frauen in Tüllkleidern und Herren in schwarzen Anzügen wurden von Valentí Rocamora i Torà zu harmonischen Bewegungsfolgen arrangiert. Doch Schrecken und Gewalt sitzen tief. Im Amazonen-Staat ist das Leben nur durch Verzicht auf Liebe und Lust mit Männern möglich. Talestri aber liebt Oronte. Das fliegt auf und erzeugt gewaltigen Druck. In existenzielle Konflikte gerät die Hohepriesterin Tomiri. Sie fordert Orontes Tod, obwohl sie seine Mutter ist. Diese Ambivalenz und Hassliebe sind das Resultat einer Vergewaltigung. Oronte und sein viriler Freund Learco (aufgrund einer Indisposition am Premierenabend leider nur mit weißer Stimme: Sergei Nikolaev) wären in der Väter-Generation als Softies ohne Vergewaltiger-Gen klassifiziert worden. Ray Chenez hat die Sopran-Partie des Oronte für Valer Sabadus übernommen. Er zeigt in Höhe und Extremhöhe beträchtliche artistische Kompetenzen. Immer wieder fällt indes blutrotes Wasser in den Brunnen und verweist auf den ernsten Urgrund der wenigen burlesken Spielsituationen. Flackernder Sarkasmus ist Garnitur zu dem, was im Amazonen-Staat faul ist. Emine Güners Bühne und Kostüme sind stilisiert, elegant und haben einen Anflug ins Surreale.

Vollkommen zurecht erhielt Eleonore Marguerre die Partie der in heroischer Aufrichtigkeit kämpfenden Priesterin Tomiri. Erst spät gibt Walpurgis Talestri mit einer sich in die Sinne brennenden Arie ähnliches Gewicht. Julia Grüter verdichtet die Titelpartie mit souveränem Schattierungsreichtum. Corinna Scheurle als Talestris Schwester Antiope gibt mit schönem Mezzo-Fluidum ein mehr bodenständiges Temperament.

Ilaria Lanzino und Wolfgang Katschner verwandeln Bizarrerie in psychologische Dynamik. Dazu braucht es die Theorben aus Katschners Lautten Compagney Berlin, welche neben der gerade 100 Jahre alt gewordenen Staatsphilharmonie Nürnberg wundersame Klangbänder um die Bühnenstimmen schlingen. Die Arien erklingen im italienischen Original, die Rezitative in deutscher Übersetzung. Zu den höchsten Glanzakten wird eine bewegende Deklamationsrhetorik, als hätte die bayerische Prinzessin nicht nur beim Belcanto-Experten Nicola Antonio Porpora, sondern sogar beim Opernreformer Christoph Willibald Gluck gelernt. „Talestri“ ist in Nürnberg Oper mit Seelentönen und Abgründigkeit. Begeisterter Jubel.

Roland H. Dippel

„Talestri, regina delle Amazzoni“ („Talestri, Königin der Amazonen“) (1760) // Opera drammatica von Maria Antonia Walpurgis

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Nürnberg