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Rezensionen 2020/06

Politische Wirren im Südseeparadies

Salzburg / Salzburger Landestheater (September 2020)
Paul Abrahams „Die Blume von Hawaii“

Salzburg / Salzburger Landestheater (September 2020)
Paul Abrahams „Die Blume von Hawaii“

Die jazzige Revue-Operette „Die Blume von Hawaii“ von Paul Abraham erzielte bei der Uraufführung 1931 einen grandiosen Erfolg. In der Mischung aus Südseeromantik, Polit-Komödie, Erotik-Revue und Liebessehnsucht war sie zum amüsanten Spektakel avanciert, das dem damaligen Musiktheater-Zeitgeschmack die passende Nahrung gab. Hawaii-Gitarren und chinesische Trommeln, Jazzsänger und Stepptänzer, eine Marinemannschaft, Revuegirls und verführerische Insulanerinnen gehören auch heute noch zu den Erfolgszutaten. So tummelte sich auf der Bühne des Salzburger Landestheaters das muntere Theatervölkchen voll sprühender Lebensenergie und unbändiger Lust am Spielen, Tanzen und Singen. Mit frischen Stimmen, schäumender Spiellaune und wirbelndem Tanztemperament zeigten alle Darsteller mitreißende Präsenz im hoch motivierten Miteinander. Kostüme, Bühnenausstattung und schillernde Lichteffekte ergaben eine farbenfrohe Optik (Bettina Richter und Christian Floeren). 

Für die Salzburger Premiere hat Regisseur Marco Dott das Szenario in eine aktualisierende Neufassung umgebaut und der Dirigent Gabriel Venzago ein markiges Orchesterarrangement verfasst. Man erlebt weniger Operette, mehr Musical-Verwandtes. Dialoge und Handlungsabläufe sind getaucht in die Brisanz der aktuellen amerikanischen Politik und Anspielungen auf den US-Präsidenten. Die Hawaiianer protestieren gegen die Unterdrückung der Amerikaner. Sie wollen den „Hawaii-Exit“. Der Aufrührer Kanako Hilo muss jetzt Kaluna heißen und Hollywoodstar Jim-Boy wird Will Roy genannt. Die hier verunfallt-verschollene Prinzessin Laya, die einst inkognito ihr Inselparadies retten wollte, wird zur Personalunion mit Hollywood-Diva Suzanne Provence, die zur Blumenkönigin gekrönt werden soll. Turbulente Liebeswirren rühren Politisches und Romantisches ordentlich durcheinander. Entwirrung erfolgt, als alle zufällig in Hollywood bei einer Art ausgelassener Oscar-Verleihung zusammentreffen. Suzanne Provence wird als beste Schauspielerin ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede mahnt sie zum Erhalt der Menschenrechte. Die Paare finden sich, einzig Prinz Taro bleibt allein und singt sehnsüchtig „Du schöne Blume von Hawaii, mein Herz gehört nur Dir“.

Franz Supper als Prinz Taro hat den operetten-tenoralen Aplomb. Marco Dott mimt aalglatt den eiskalt geschäftigen amerikanischen Gouverneur. Alexander Hüttner gibt den aufgescheuchten John Duffy, der sich zuletzt doch als der passende „Cocktail“ für seine angebetete Bessie erweist. Laura Incko alias Suzanne/Laya und Hazel McBain als Hawaiianerin Raka setzen Sopran-Glanzlichter. Luke Sinclair und Samuel Pantcheff machen gute Figur als verliebter Kapitän und revoltierender Kaluna. Als darstellerisch und vor allem tänzerisch faszinierender Mittelpunkt mit fabelhaften Stepptanz-Künsten brillieren Sophie Mefans Bessie und Andreas Wolframs Will Roy. Das Couplet vom Diwanpüppchen wird zum Kabinettstück, „Du traumschöne Perle der Südsee“ zum Ohrwurm. Auch Chor und Tänzer bieten spritziges, wirbelndes Theatertemperament. Und das Mozarteumorchester verdient sich jeden Respekt für den forschen Umgang mit den zackigen Klangrhythmen.

Elisabeth Aumiller

„Die Blume von Hawaii“ (1931) // Paul Abraham

Spektakuläre Normalität

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Covid-19 kann „Figaros Hochzeit“ nichts anhaben

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Covid-19 kann „Figaros Hochzeit“ nichts anhaben

Der zweite Abend der Doppelpremiere hebt sich denkbar vom „Barbier“ ab. Die quirlige Buffomaschinerie Rossinis weicht einem Seelendrama, dessen Komödienanteile im menschlichen Wesen selbst wurzeln. Hausherr und Regisseur Uwe Eric Laufenberg mäßigt sich für die auf dem Herzstück von Beaumarchais’ „Figaro-Trilogie“ basierende Mozart-Oper wie sonst selten. Alle Wirren des „tollsten Tages“ im Leben der Figuren bändigt er zu kaum je über die Stränge schlagender Gediegenheit. Bis in letzte Verzweigungen ist all dies genau gesehen und mehr noch ausgehört. So mag die Gräfin en passant den Reizen Cherubinos nachgeben, an ihrer Liebe zum umtriebigen Gemahl ändert das nichts. Der Graf lebt zwar seine Midlife-Crisis mit allerlei Frauen aus, der Gemahlin überdrüssig ist er keineswegs. Figaro und Susanna sind präzise umrissene Katalysatoren jener Ereignisse, die zur letztlichen Bewährung der Ehe von Gräfin und Graf führen. Die Gräfin gewinnt – und darin liegt ein revolutionäres Moment – ihre Souveränität durch das Dienstbotenpaar zurück. Das aber bezeichnet einen Etappensieg auf dem Weg zur Volksherrschaft. Bei aller Gemessenheit seiner Figurenportraits zeigt sich freilich der Regisseur selbst als der wahrhaft Aufbegehrende. Dem Distanzgebot trotzend, geht das – selbstredend Covid-19-getestete – Ensemble auf Tuchfühlung. Unter gewöhnlichen Umständen würde solche Nähe gewiss registriert, doch kaum als außergewöhnlich empfunden werden. Die Seuchensituation aber münzt, was einmal gängig war, in Rebellion um. Daher auch nimmt Gisbert Jäkels Bühne Anleihen bei jenem Klassizismus des Louis- XVI.-Stils, der sich in die Architekturauffassung der Französischen Revolution überführen ließ. Jessica Karge kleidet die Solisten in Kostüme, deren zeitloser Eleganz sie die eine oder andere ironische Spitze aufsetzt.

Musikalisch ist der Abend ein vokaler Volltreffer, den Konrad Junghänel mit dem Hessischen Staatsorchester warmtönend und satt grundiert. Das Haus verfügt über ein Mozart-Ensemble aus einem Guss. Vokale Farben und Balance sind bis in die kleinsten Partien nahezu vollkommen aufeinander abgestimmt. Konstantin Krimmel in der Titelpartie überzeugt durch reiche Valeurs auf dennoch stilistisch gerader Bahn. Anna El-Khashem stattet ihre Susanna mit Leuchtkraft und runder Tongebung aus. Slávka Zámecniková verleiht der Gräfin Innigkeit und beizeiten Attacke. Benjamin Russell behält selbst im sanglichen Poltern des Grafen eine Spur von Noblesse. Der Cherubino von Heather Engebretson schmeichelt sich auch vokal bei der Damenwelt ein. Bleibt die Frage nach der Rechtfertigung für die Entscheidung zu einer Doppelpremiere. Sie kann nicht darin liegen, zwei disparate Schlüsselwerke des Musiktheaters mit dem Tortenguss vermeintlicher Einheitlichkeit zu überziehen. Eher gibt die Einsicht, wie Mozart und später Rossini das ihnen jeweils Gemäße der Figaro-Gestalt des Beaumarchais ergriffen haben, den Ausschlag. Das hat die Doppelpremiere ebenso ohren- wie augenfällig erwiesen.

Michael Kaminski

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Wolfgang Amadeus Mozart

Opera buffa trotzt Corona

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Rossinis „Barbier“ setzt die subversive Kraft des Lachens frei

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Rossinis „Barbier“ setzt die subversive Kraft des Lachens frei

Mit der jeweils dreieinhalbstündigen Doppelpremiere von „Barbier“ und „Figaro“ an zwei aufeinanderfolgenden Tagen leistet das Wiesbadener Staatstheater ein in Covid-19-Zeiten rekordverdächtiges Wagestück. Doch zunächst stimmt Regisseur Tilo Nest ganz in scheinbarer Rücksicht auf die Seuchenlage das Publikum zu Beginn des auf der ersten Komödie von Beaumarchais’ „Figaro-Trilogie“ basierenden „Barbier“ die 200 zugelassenen Besucher auf einen lediglich halbszenischen Abend ein, indem er das Orchester auf der Vorderbühne positioniert. Kaum aber haben zwei Mitglieder des Klangkörpers füreinander Feuer gefangen und sind zu Rosina und Almaviva mutiert, fahren die Kollegen in den Graben hinab und geben einem Treiben Raum, dessen Herkunft aus der Commedia dell’arte die Regie keinen Augenblick verleugnet. Daher gelingt es der „Barbier“-Personage auch, souverän mit der Covid-19-Lage zu spielen. Das fängt beim demonstrativen Einhalten des Distanzgebots an und hört bei Rosinas domestiziertem Riesengürteltier nicht auf. Fiese Gerüchte wie Viren versprühend, verwandelt sich Basilio im Crescendo der Verleumdungsarie in eine Fledermaus. Um keinen Schlich verlegen, schlüpft Figaro in diverse Theaterberufe vom Inspizienten bis zum Kapellmeister und gebietet ferner über die Bühnenmaschinerie. Zu allem Überfluss hüpft Rossini in Bartolos Part über die Bühne. Erst die letzten Raketen des Ideenfeuerwerks wollen nicht mehr zünden. Die für Almaviva geöffneten Striche münden in eine One-Man-Show, in der sich die übrigen Ensemblemitglieder zu bloßen Zuhörern degradiert sehen müssen. Aufs Ganze gesehen aber gerät der Wiesbadener „Barbier“ zu einer Riesengaudi, in der Gisbert Jäkels die technischen Möglichkeiten des Hauses fordernde Bühne munter mitmischt. So setzt sich Rosinas rosa tapeziertes Mädchenzimmer in den Turbulenzen des ersten Finales in aufgeregte Bewegung. Für die Kostüme legen sich Anne Buffetrille und Mirjam Ruschka keinerlei Zügel an. Rosina wechselt zwischen Girlie und Señora. Almaviva platzt als Offizier der Roten Funken aus dem rheinischen Karneval in Bartolos Haus.

Musikalisch brilliert der Abend vor allem durch vokale Leistungen. Denn Konrad Junghänel entlockt zwar den Holzbläsern des beinahe kammermusikalisch besetzten Hessischen Staatsorchesters abwechselnd Poesie und Schalk, das Häuflein Streicher aber muss die Töne treiben. Stimmlich gewinnend lässt Ioan Hotea seinen Almaviva zwischen lyrischem Tenor und tenore di grazia changieren. Silvia Hauer grundiert Rosina noch in den mutwilligsten Passagen mit einer Spur Noblesse. Thomas de Vries gibt einen frappierend Parlando-geläufigen Bartolo. Rollenadäquat lässt Young Doo Park seinen Basilio orgeln und donnern. Christopher Bolduc verkörpert die Titelfigur darstellerisch wendig.

Michael Kaminski

„Il barbiere di Siviglia“ („Der Barbier von Sevilla“) (1816) // Gioachino Rossini

Philosophie in starken Bildern

Magdeburg / Theater Magdeburg (September 2020)
Mozarts „La clemenza di Tito“ in außergewöhnlicher Ensemble-Qualität

Magdeburg / Theater Magdeburg (September 2020)
Mozarts „La clemenza di Tito“ in außergewöhnlicher Ensemble-Qualität

Bei der Uraufführung im Jahre 1791 ging es Mozarts letzter Oper schlecht. Überwiegend uninteressierte Gäste konnten mit der neuen Oper „La clemenza di Tito“, komponiert zur Krönung des Kaisers Leopold II. zum König von Böhmen, nicht viel anfangen. Und der ansonsten gebildete Staatsmann Karl von Zinzendorf notiert über diese erste Aufführung in sein Tagebuch, dass die Oper ein „plus ennuyeux spectacle“, also „ein äußerst langweiliges Schauspiel“ sei. Bis heute muss sich dieses Werk immer wieder seinen Platz neben den „großen“ Opern Mozarts erobern. Dazu bedarf es eines Regisseurs, der die tiefgehende Philosophie dieses Werkes aufspürt und in Bilder umzusetzen weiß. Dietrich W. Hilsdorf ist dafür der richtige Mann. Für die Bühne ließ er Riesenfragmente barocker Bildkunst über das antike Forum Romanum einschließlich des Titusbogens herstellen. Davor entwickelt er ein zunehmend packendes Psychodrama zwischen Lüge, Macht, Rache, Schuld und Vergebung. Dabei lässt er das Solistenensemble während der gesamten Oper nur ganz selten von der Bühne. Stattdessen sitzen sie am Rande der Bühne vor normalen Theaterschminktischen. Von dort verfolgen sie zwar ab und zu das Bühnengeschehen, verlassen ihre Plätze aber nur zu ihren eigenen Auftritten. Und die haben beeindruckendes Format.

Emilie Renard füllt die Rolle des Sextus als Freund von Kaiser Titus mit erschütternder Tiefe. Ihre Darstellung des Konflikts zwischen Freundschaft zum Kaiser und Liebe zur Kaisertochter Vitellia (glänzend Noa Danon), die ihn zum Vatermord anstiften will, geht unter die Haut. Ganz große Gesangs- und Darstellungskunst! Auch in den weiteren Rollen zeigt das Ensemble hohe Solo-Qualität: Emanuele D’Aguanno mit edler Stimmfärbung als Kaiser Titus, der seine Rachegefühle unterdrückt und dem Attentäter vergibt; Hyejin Lee als Servilia mit anrührendem Stimmencharme die Schwester des Sextus gestaltend und Isabel Stüber Malagamba als Servilias Geliebter Annius. Des Weiteren gewinnt Berenike, die Geliebte des Kaisers, durch Marianne Leineweber bemitleidenswerte Gestalt und Marcel Reitter gibt den Mitverschwörer Lentulus. Beeindruckend die Stimme und Darstellung des machtbewussten und gnadenlosen Präfekten Publius durch Marko Pantelić.

Zu den musikalischen Höhepunkten der Inszenierung wird neben den großartigen Soli das Singen im Ensemble. Sensibel aufeinander hörend, finden die einzelnen Stimmen gemeinsame Schwingungen und singen mit einem Einklang, wie man ihn selten an Opernhäusern erleben kann. Diese Ensemble-Qualität betrifft auch die Zusammenarbeit mit dem Orchester. Fast auf Bühnenhöhe hochgefahren, kann Generalmusikdirektorin Anna Skryleva auf Augenhöhe mit der Bühne fein abgestimmte Momente zwischen Gesang und Orchester gestalten. Wenn auch der Streicherklang bei aller technischer Perfektion phasenweise distanziert wirkt, hört man gleichwohl viel instrumentalen Wohlklang. Souverän dirigierend und immer wieder phantasiereich die Rezitative am Cembalo begleitend, führt die Generalmusikdirektorin das von ihr selbst Corona-gerecht reduzierte Orchester durch diesen besonderen Abend. Viel Beifall von einem dankbaren Publikum.

Claus-Ulrich Heinke

„La clemenza di Tito“ (1791) // Wolfgang Amadeus Mozart

Umjubelter Corona-Verdi

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2020)
Fiebernder Geniestreich „L’ultimo sogno“

Kassel / Staatstheater Kassel (September 2020)
Fiebernder Geniestreich „L’ultimo sogno“

Es ist die bekannte „Traviata“-Geschichte. Und doch ist alles anders. Zwar agieren die vertrauten Verdi-Personen auf der Bühne und singen auch einige ihrer berühmten wunderbaren Arien, Duette und Ensembles. Zwar erklingen aus dem Orchestergraben Verdis aufregende Opernklänge. Und Violetta stirbt zum Schluss auch wie gewohnt mit so schrecklichen Hustenanfällen, dass man um die Stimme der Sängerin fürchten muss. Und doch erlebt man eine neue Oper. Was ist mit Verdis „La traviata“ in Kassel geschehen? Beharrlich hatte die Intendanz des Staatstheaters nach einer Wiederbelebung des Hauses gesucht. Und das unter Berücksichtigung der geltenden Corona-Regeln: Im Graben maximal 20 Instrumente, auf der Bühne Abstandsregeln einhalten und keine Pause. Kuriose Bedingungen für eine Oper, bei der leidenschaftliche Liebesszenen zur Essenz gehören und sich das Drama normalerweise über zweieinhalb Stunden erstrecken kann. In Kassel hatte man die unkonventionelle Idee, den in der Schweiz lebenden italienischen Komponisten Carlo Ciceri um eine Version der Oper zu bitten, die den aktuellen Bedingungen gerecht wird. Und diesem renommierten Musiker gelingt innerhalb von wenigen Wochen ein Geniestreich. Er verbindet Verdis Musik und eigene Klänge zu einer Collage mit dem Titel „L’ultimo sogno – Der letzte Traum/Annäherung an ›La traviata‹“. Das Bühnengeschehen fokussiert er auf Violetta. Die verbringt fiebernd die gesamte Zeit auf ihrem bodengleichen Matratzenlager. Immer wieder nähern sich in ihren rückschauenden Phantasien Personen des vergangenen Lebens dem Lager der hoch ansteckenden Tuberkulose-Kranken. Beklemmend aktuell schützen sie dabei Nase und Mund mit Taschentüchern. Und zugleich räumen im Hintergrund des kahlen Raumes (Bühnenbild Hermann Feuchter) in einer nicht enden wollenden Karawane Bedienstete alle luxuriösen Möbel aus dem Haus. Selbst vor dem Laken der Sterbenden machen sie nicht halt. Zuletzt ist Violetta nur noch ein Häufchen Elend, das auf der kahlen Matratze verreckt.

Bei aller hohen Qualität des gesamten Solistenensembles und des auf dem Rang positionierten Chores, gehört der Abend der überragenden Vlada Borovko. Die russische Sopranistin gehört zu den Shootingstars der internationalen Opernszene. Wer sie in Kassel erlebt, weiß, warum das so ist. Ohne Unterbrechung ist sie auf der Bühne präsent und fasziniert mit makelloser Stimmführung und einer vokalen Ausdrucksstärke, die berückend ist. Dabei zieht sie auch mit schauspielerischer Intensität in den Bann und gestaltet ihr inneres Verbrennen zu einem erschütternden Bild für das Scheitern ihrer Liebe zu Alfredo (mit bewegendem canto dramatico Giordano Lucà). Trotz der reduzierten Besetzung gelingt dem Orchester überzeugende Verdi-Musik. Die verwandelt sich aber immer wieder unmerklich in sphärische oder harte expressive Klänge, bei denen auch das rechts und links am Bühnenrand stehende umfangreiche Schlagzeug zum Einsatz kommt. Ein zurecht umjubelter Corona-Verdi, der auch nach der Pandemie Bestand haben wird.

Claus-Ulrich Heinke

„L’ultimo sogno – Der letzte Traum“ (Annäherung an „La traviata“) (2020) // Carlo Ciceri auf Basis der Oper von Giuseppe Verdi

Eingewickelt – ausgewickelt

Hamburg / Staatsoper Hamburg (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit der Collage „molto agitato“

Hamburg / Staatsoper Hamburg (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit der Collage „molto agitato“

Einkalkuliert war ein großer Frank-Castorf-Aufreger für Hamburg. Den haben die Anti-Corona-Regeln verhindert. Also kein „Boris Godunow“-Massenauflauf in der Staatsoper, sondern einige Nummern kleiner: eine musikalisch-szenische Collage unter dem Titel „molto agitato“ mit Musik von Georg Friedrich Händel, György Ligeti, Johannes Brahms und Kurt Weill.

Castorfs Regieausflüge in die Welt der Oper profitierten bislang von den kongenialen Drehbühnen-Konstrukten, die sein Ausstatter Aleksander Denic als assoziationsoffene Spiel- und Denkräume dafür erfand. In Hamburg ist nichts davon zu sehen. Hier versieht er die erdrückende Tiefe des Bühnenraumes nur sehr sparsam mit ein paar Versatzstücken. Eine Filmset-Ecke ganz hinten. Ein Spruchband mit den aufgesprühten Worten „Sex and Lies“. Eine US-Fahne, die Valery Tscheplanowa schwenkt und in die sie sich vielsagend ein- und aus der sie sich wieder auswickelt. Schließlich wird dieses nationale Symbol in Gestalt einer gewaltigen Lichtinstallation bis vor an die Rampe gefahren. In Flammen geht aber nicht das Sternenbanner, sondern „nur“ eine weiße Fahne auf.

Die Musik zur Auftakt-Choreographie mit Fahne liefert Händels „Ankunft der Königin von Saba“. Katharina Konradi, Jana Kurucová und Georg Nigl präsentieren dann neben einem hereingeschobenen Bühnenorchester effektvoll die Vokalisen-Emphase mit Ligetis „Nouvelles Aventures“ (1965). Nach den von Rupert Burleigh am Klavier begleiteten „Vier ernsten Gesängen“ von Brahms wechselt Tenor Matthias Klink gekonnt zu nachgespielten Folterszenen aus Quentin Tarantinos Gangsterfilm „Reservoir Dogs – Wilde Hunde“, in denen auch Bariton Georg Nigl echt wienernd glänzt. Gemeinsam mit Konradi und Kurucová begleitet Nigl zu Ausschnitten aus Händels „Aci, Galatea e Polifemo“ einen über ihren Köpfen eingespielten sowjetischen Animationsfilm zum Thema. Mehr szenisch musikalisches Eigengewicht entfalten schließlich „Die sieben Todsünden“ in einer Fassung von HK Gruber und Christian Muthspiel. Hier brilliert Tscheplanowa mit beiden Persönlichkeiten der Anna auf ihrer Tour durch etliche US-Metropolen. Beim Dauerthema USA geht es natürlich auch um Gewalt und Sexismus, der Name Harvey Weinstein fällt. Die Requisite steuert auch noch einen Militär-Jeep bei…

Natürlich gibt es die bei Castorf unvermeidlichen, mit Bühnenkameras produzierten Livebilder auf der großen Leinwand im Zentrum der Bühne. Diesmal allenfalls routiniert, ohne wirklich eine neue Dimension zu erschließen. Für Kent Nagano am Pult seiner Musikerauswahl war es eher eine Eröffnung mit angezogener Handbremse. Wie sagte Intendant Georges Delnon vor der Vorstellung? „Die Hauptbotschaft ist: Wir spielen wieder!“

Roberto Becker

„molto agitato“ (2020) // Collage mit Musik von Georg Friedrich Händel, Johannes Brahms, Kurt Weill und György Ligeti

Seelensprache

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (September 2020)
Intelligent konzipierter Abend rund um Menottis „The Medium“

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (September 2020)
Intelligent konzipierter Abend rund um Menottis „The Medium“

Eines haben die Kompositionen, die zur Spielzeiteröffnung nach langer, Corona-bedingter Pause an der Oper Frankfurt im Zusammenspiel mit Gian Carlo Menottis Oper „The Medium“ zu erleben sind, gemeinsam: Sie strahlen Hoffen, Trauer und Vergänglichkeit der menschlichen Existenz aus. Zu Beginn betreten rund dreißig Männer die Bühne. Der „Gesang der Geister über den Wassern“ für acht Männerstimmen und tiefe Streicher von Franz Schubert ertönt, gefolgt von Johannes Brahms „Vier Gesängen“ für Frauenchor, zwei Hörner und Harfe. Beide Werke sind reizvolle, Naturromantik atmende Stücke, die besondere Klangfinessen der begleitenden Musiker einfordern. Dies gelingt vorzüglich unter dem achtsamen Dirigat von Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. Brahms „Vier Gesänge“ erinnern an Wagners Spinnerlied aus dem „Fliegenden Holländer“. Frisch, jung, beherzt und fast knabenhaft tönt der in lange, schwarze Samtkleider gehüllte Frauenchor. Chorleiter Tilman Michael kann aus dem musikalisch Vollen schöpfen. Gute Deklamation, Textverständlichkeit und wohl geformte Konsonanten zeichnen diesen Opernchor aus, trotz der Masken, die sie tragen müssen. Der Zuhörer begreift, dass Musik Seelensprache sein kann, ja ist! Intelligentes dramaturgisches Kombinieren von Einaktern mit Kompositionen des abendländischen Chorgesangs geben dem manchmal zu sehr aufs Schauen fokussierten Publikum die Chance zu einem neuen, achtvollen Hinhören. Befreite Klänge folgen bei Witold Lutosławskis „Musique funèbre“ für Streichorchester, entstanden 1958 im Gedenken an den großen ungarischen Komponisten Béla Bartók. Das Solocello erhebt die Stimme. Schluchzende Sekunden, aufbegehrende Quinten bestimmen das Beklemmung hervorrufende Stück.

Dies ist eine gelungene Überleitung zu Gian Carlo Menottis Einakter „The Medium“. Regisseur Hans Walter Richter zeigt in psychologisch ausgefeilter, tiefgründiger Personenzeichnung die voneinander abhängigen Personengeflechte auf. Im gespenstisch dunklen Souterrain (Bühne: Kaspar Glarner) hält Spiritistin Madame Flora Séancen ab und wird durch zu viel Alkoholgenuss und Wahnvorstellungen verrückt. Claire Barnett-Jones singt und agiert exzellent – eine meisterhafte Fallstudie. Beeindruckend und die Entdeckung des Abends ist Gloria Rehm (Monica), die als liebessehnsüchtiges Wesen mit glasklarem, hellem, schwärmerischem Sopran aufwartet. Gut gesanglich aufeinander eingespielt und wohlig hysterisch ist das Séancen-süchtige Ehepaar Gobineau, Barbara Zechmeister und Simon Neal. Überzeugend mit mezzostattem Ton gestaltet Kelsey Lauritano ihre Partie der Mrs. Nolan. Marek Löcker brilliert in der stummen Rolle des angstbeladenen Toby. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter der Leitung von Sebastian Weigle zaubert aus dem Graben energiegeladenes, hochdramatisches Feuerwerk. „Stets Gewohntes nur magst du verstehn: doch was noch nie sich traf, danach trachtet mein Sinn.“ Wotans Wunsch aus dem „Ring“ ging an diesem Abend in Erfüllung. Ein nachdenkliches, musikalisch stimmungsvolles Erleben.

Barbara Röder

„The Medium“ (1946) // Gian Carlo Menotti; kombiniert mit Kompositionen für Chor und Orchester von Franz Schubert, Johannes Brahms und Witold Lutosławski

Nur daheim ist auch keine Lösung 

Erfurt / Theater Erfurt (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit einem faszinierenden „Drunter und Drüber“

Erfurt / Theater Erfurt (September 2020)
Spielzeiteröffnung mit einem faszinierenden „Drunter und Drüber“

Es ist keine Zustandsbeschreibung, sondern ein Titel: „Drunter und Drüber“ – „ein musikalischer Abend in 10 Zimmern“, mit dem in Erfurt der Spielbetrieb im Haus wieder losgeht (die Saison beginnt dort immer schon im Sommer mit einem Domstufen-Spektakel). Was sich Sopranistin und langjähriges Ensemblemitglied Daniela Gerstenmeyer für ihr Haus ausgedacht hat, ist Musiktheater im besten Sinne. Unterschiedliche Musiknummern mit Szenen oder Absurditäten des Lebensalltages zu konfrontieren, hat Christoph Marthaler berühmt gemacht. 

Peter Leipold dirigiert unsichtbar im Bühnenhintergrund einen Ritt durch die Musikgeschichte, den er arrangiert hat. Die musikalischen Steilvorlagen für das Erfurter Protagonisten-Team finden sich bei Bach und Beethoven ebenso wie bei Mahler, Tschaikowski oder Johann Strauss (Sohn) und natürlich bei Rossini, Donizetti, Paganini und Verdi. Auf der Bühne (Ausstattung Mila van Daag) haben alle ihr eigenes Zimmer. In einem dreistöckigen Haus, dem die Fassade fehlt und von dem immer zwei Etagen zu sehen sind, können wir einem willkürlich ausgewählten Bevölkerungsquerschnitt beim Umgang mit der Selbstisolierung zusehen. Und zuhören.

Regisseur Markus Weckesser bietet dort lauter kleine Mikrodramolette mit Musik. Jeder der Bewohner hat einen Rollennamen, nebst Beruf und Geschichte. Sie sind traurig, verzweifelt, wütend, müssen mit Fress- oder Backattacken umgehen oder ihren 30. Geburtstag ohne Gäste feiern. Der Postbote bringt Pizza, die Sozialarbeiterin (Katja Bildt) schleppt immer wieder gehamstertes Toilettenpapier ran. Aber: Die Geigerin (Juliane Billeb) übt Paganini. Der Opernsänger (Brett Spraque) prüft, ob die Verführungskraft seines Verdi-Schmelzes noch funktioniert. Und der brave Architekturstudent (Caleb Yoo) wirbt mit Blumen und der Liebeserklärung des Fürsten Gremin an Tatjana um die Ballett-Tänzerin (Daniela Backhaus) in der Nachbarwohnung. 

Die geschickt gebaute Nummernfolge hat dramatische Steigerungen, aber auch ruhige Momente. Sie endet besinnlich mit „Der Mond ist aufgegangen“ von Johann Abraham Peter Schulz. Immerhin stimmt dieses besinnliche Stück das alte Rentner-Ehepaar in der Parterrewohnung an, das sich in der Krise trotz seiner vorher auf dem Esstisch montierten Plexiglaswand wieder näher gekommen war.

Dass die Musik zum Zeichen der Hoffnung auf Gemeinsamkeit werden kann, war schon klar, als der musikalische Funke von Beethovens „Mir ist so wunderbar“ (aus dem „Fidelio“), von „So muss allein ich bleiben“ aus der „Fledermaus“ oder von „Bella figlia dell’amore“ („Rigoletto“) übersprang und sich zu Ensembleszenen erweiterte. Man hätte dieser mit Jubel quittierten Bühnenquarantäne gerne noch länger zugesehen und -gehört.

Roberto Becker

„Drunter und Drüber“ (2020) // Collage mit Musik verschiedener Komponisten; Konzeption und Idee von Daniela Gerstenmeyer, Arrangements von Peter Leipold

Einsamkeitstheater einer Virtuosin

Berlin / Komische Oper Berlin (September 2020)
Dagmar Manzel in symbolistischer Parforce-Tour „Pierrot Lunaire“

Berlin / Komische Oper Berlin (September 2020)
Dagmar Manzel in symbolistischer Parforce-Tour „Pierrot Lunaire“

Zur Eröffnung der neuen Saison präsentiert die Komische Oper Berlin den dreiteiligen Abend „Pierrot Lunaire“ mit Dagmar Manzel als alleiniger Protagonistin. Man könnte meinen, dass diese Produktion als Antwort auf Corona in den Spielplan aufgenommen wurde, doch Hausherr und Regisseur Barrie Kosky betont in seiner Premierenansprache, dass sie bereits vor vier Jahren konzipiert wurde, als an das Virus noch nicht zu denken war. Nun passt das Programm in seiner Reduziertheit und Konzentration auf eine Person haargenau in ein Theater der Abstände und hygienebedingten Einschränkungen. Die Solo-Performance, die 75 pausenlose Minuten dauert, kombiniert die beiden Monodramen „Nicht Ich“ und „Rockaby“ von Samuel Beckett mit Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“. Minimalistisch beschränkt sich die Ausstattung von Valentin Mattka auf ein paar Möbelstücke, sparsam sind Koskys Regieanweisungen. Denn es braucht kein Beiwerk angesichts der raumfüllenden Präsenz und Ausdruckskraft von Dagmar Manzel.

Den Auftakt bildet „Nicht Ich“. Aus dem schwarzen Vorhang sticht allein ihr grell angeleuchteter Mund hervor. Satzfetzen und scheinbar zusammenhanglose Worte quellen aus ihm hervor. Was sie bedeuten, ist nur zu erahnen, doch spricht Verzweiflung und Panik aus ihnen. Es ist meisterhaft, wie die Schauspielerin den Redefluss kristallklar artikuliert, strukturiert und Kontraste zwischen Schrei und Stille schafft. Es folgt „Rockaby“, der Monolog einer sterbenden Frau. Jetzt sitzt Dagmar Manzel, gekleidet in ein langes schwarzes Gewand, in einem Schaukelstuhl und wippt fast ununterbrochen, während aus dem Off ihre Stimme eingespielt wird. Ruhig, fast monoton trägt sie die letzten Gedanken vor, die sich in ihrem steten eintönigen Fluss radikal vom nervösen Gestammel von „Nicht Ich“ abheben.

In dem von Arnold Schönberg vertonten Gedichtszyklus „Pierrot Lunaire“, der um rätselhafte Erlebnisse und schwebende Gemütszustände des traurigen Clowns kreist, lässt Kosky die alte Dame zum Kind werden. Im Matrosenanzug, einen Teddybären im Arm, schiebt Dagmar Manzel ein Bett auf die Vorderbühne, das mal als Hort der Sicherheit, mal als Ort des Schreckens dient. Die Stimmvirtuosin reizt alle Schattierungen des Sprechgesangs für diese symbolistische Gefühlswelt aus, findet für jede Strophe eigene Facetten und kann sich dabei auf die behutsame Begleitung durch die fünf Instrumentalisten unter der Leitung von Christoph Breidler stützen.

Am Ende, wenn das Licht allmählich erlischt, wird der Mund aus „Nicht Ich“ noch einmal sichtbar. Doch diesmal bleibt er stumm, man sieht nur noch Lippenbewegungen. Ein Kreislauf hat sich geschlossen. Dann brandet ehrfürchtiger Applaus für eine anbetungswürdige Singdarstellerin auf, deren Parforce-Tour man gebannt und fasziniert verfolgt hat. Leichtgewichtiger soll es weitergehen, so Barrie Kosky anschließend, und er kündigt zur Aufmunterung Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ an.

Karin Coper

„Pierrot Lunaire – Drei Monodramen“ // Melodram op. 21 (1912) von Arnold Schönberg sowie „Nicht Ich“ (1972) und „Rockaby“ (1981) von Samuel Beckett

Auf dem Nebengleis

Berlin / Deutsche Oper Berlin (September 2020)
Stefan Herheim kapriziert sich in der „Walküre“ auf Sekundäres

Berlin / Deutsche Oper Berlin (September 2020)
Stefan Herheim kapriziert sich in der „Walküre“ auf Sekundäres

Der Komponist hat seine Fluchtgeschichten. Sei es als politisch Verfolgter 1848er, sei es vor den Gläubigern aus Riga. Auf der Flucht befindet sich auch Siegmund. Zunächst allein, später mit Sieglinde. Brünnhilde betätigt sich als des Liebespaars Fluchthelferin vor Wotan. Der seinerseits der eigenen Verantwortung zu entkommen sucht. Stefan Herheim möchte aus alldem den Funken für die Geschichte migrierender Massen schlagen, die sich – auf der Bühne als Solisten und Statisterie gegenwärtig – durch den „Ring“-Mythos ihrer Identität versichern. Einige der Heimatlosen schlüpfen daher in die Rollen von Göttern, Wotanstöchtern und irdischem Personal, derer sie sich wiederholt aus dem auf dem allgegenwärtigen Konzertflügel bereitliegenden Klavierauszug vergewissern. Die Flüchtlingstragödie gebiert sich aus dem Geist der Musik, um final dorthin zurück zu sinken. So, wie Brünnhilde dem Instrument entstiegen war, in das sie von Wotan am Ende als ihrem Sarg gebettet wird. Freilich lenkt Herheim von der bedenkenswerten Grundkonzeption durch Aufstockung des „Walküre“-Personals ebenso wie durch Überbetonung zahlreicher Nebenaspekte ab. Zuallererst gilt das für die Hinzuerfindung eines „Hundinglings“, dem Sohn Hundings und der Sieglinde, der – von der Mutter gemeuchelt – in Walhall als Kumpan der auf dem Schlachtfeld hingerafften Helden den Wotanstöchtern in der Absicht der Vergewaltigung an die Wäsche geht. Freilich befremdet heftiger noch als derlei Zuviel an Redundanz, wenn Herheim das Gestische der Wagner’schen Musik in die Bewegung der Figuren zu übertragen sucht und dabei über antiquierte Zeigegebärden nicht hinausgelangt. Im Bild bleibt das Flüchtlingsgeschehen omnipräsent. Um den zentral positionierten Konzertflügel schichten Herheim und Silke Bauer eine Bühne aus zahllosen Koffern, Baustoff für die finster dräuende Behausung Hundings, ansonsten wie eine pittoreske Geröllhalde anzusehen. Mit ironischem Augenzwinkern erübrigen Uta Heisekes Kostüme für Siegmund Holzfällerhemd, für Brünnhilde Flügelhelm und Brustharnisch.

Musikalisch lässt sich der Abend cum grano salis ansprechend vernehmen. Donald Runnicles und das in der vollen von Wagner verlangten Stärke den Graben bevölkernde, ebenso wie die Solisten täglich Covid-19-getestete Orchester der Deutschen Oper Berlin spüren – des Monumentalformats seit Monaten entwöhnt – den großen Zusammenhängen der Partitur noch nach. Vokal beherrschen die Damen das Feld. Nina Stemme singt ihre Brünnhilde immer frisch auf schlanker, in leuchtende Höhen und schimmernde Tiefen mündender Bahn. Lise Davidsen stattet Sieglinde mit enormer Durchschlagskraft, reichen Farben und emphatischem Strahlen aus. Annika Schlicht verleiht Fricka ungewohnt glühende Leidenschaft. Die Herren erreichen nicht ganz diesen Standard. Baritonal grundiert, vermittelt Brandon Jovanovichs Siegmund nur wenig zwischen liedhafter Innigkeit und emotionalen Ausbrüchen. Der für Wotan allzu helle Bariton von John Lundgren gebietet kaum über die Ressourcen für einen intensiven Schlussakt. Andrew Harris setzt für Hunding besitzergreifende
Akzente.

Michael Kaminski

„Die Walküre“ (1870) // Richard Wagner