Der zweite Abend der Doppelpremiere hebt sich denkbar vom „Barbier“ ab. Die quirlige Buffomaschinerie Rossinis weicht einem Seelendrama, dessen Komödienanteile im menschlichen Wesen selbst wurzeln. Hausherr und Regisseur Uwe Eric Laufenberg mäßigt sich für die auf dem Herzstück von Beaumarchais’ „Figaro-Trilogie“ basierende Mozart-Oper wie sonst selten. Alle Wirren des „tollsten Tages“ im Leben der Figuren bändigt er zu kaum je über die Stränge schlagender Gediegenheit. Bis in letzte Verzweigungen ist all dies genau gesehen und mehr noch ausgehört. So mag die Gräfin en passant den Reizen Cherubinos nachgeben, an ihrer Liebe zum umtriebigen Gemahl ändert das nichts. Der Graf lebt zwar seine Midlife-Crisis mit allerlei Frauen aus, der Gemahlin überdrüssig ist er keineswegs. Figaro und Susanna sind präzise umrissene Katalysatoren jener Ereignisse, die zur letztlichen Bewährung der Ehe von Gräfin und Graf führen. Die Gräfin gewinnt – und darin liegt ein revolutionäres Moment – ihre Souveränität durch das Dienstbotenpaar zurück. Das aber bezeichnet einen Etappensieg auf dem Weg zur Volksherrschaft. Bei aller Gemessenheit seiner Figurenportraits zeigt sich freilich der Regisseur selbst als der wahrhaft Aufbegehrende. Dem Distanzgebot trotzend, geht das – selbstredend Covid-19-getestete – Ensemble auf Tuchfühlung. Unter gewöhnlichen Umständen würde solche Nähe gewiss registriert, doch kaum als außergewöhnlich empfunden werden. Die Seuchensituation aber münzt, was einmal gängig war, in Rebellion um. Daher auch nimmt Gisbert Jäkels Bühne Anleihen bei jenem Klassizismus des Louis- XVI.-Stils, der sich in die Architekturauffassung der Französischen Revolution überführen ließ. Jessica Karge kleidet die Solisten in Kostüme, deren zeitloser Eleganz sie die eine oder andere ironische Spitze aufsetzt.

Musikalisch ist der Abend ein vokaler Volltreffer, den Konrad Junghänel mit dem Hessischen Staatsorchester warmtönend und satt grundiert. Das Haus verfügt über ein Mozart-Ensemble aus einem Guss. Vokale Farben und Balance sind bis in die kleinsten Partien nahezu vollkommen aufeinander abgestimmt. Konstantin Krimmel in der Titelpartie überzeugt durch reiche Valeurs auf dennoch stilistisch gerader Bahn. Anna El-Khashem stattet ihre Susanna mit Leuchtkraft und runder Tongebung aus. Slávka Zámecniková verleiht der Gräfin Innigkeit und beizeiten Attacke. Benjamin Russell behält selbst im sanglichen Poltern des Grafen eine Spur von Noblesse. Der Cherubino von Heather Engebretson schmeichelt sich auch vokal bei der Damenwelt ein. Bleibt die Frage nach der Rechtfertigung für die Entscheidung zu einer Doppelpremiere. Sie kann nicht darin liegen, zwei disparate Schlüsselwerke des Musiktheaters mit dem Tortenguss vermeintlicher Einheitlichkeit zu überziehen. Eher gibt die Einsicht, wie Mozart und später Rossini das ihnen jeweils Gemäße der Figaro-Gestalt des Beaumarchais ergriffen haben, den Ausschlag. Das hat die Doppelpremiere ebenso ohren- wie augenfällig erwiesen.

Michael Kaminski

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Wolfgang Amadeus Mozart