Den Organisten und Orgel-Liebhabern ein Begriff, als Sinfoniker vernachlässigt, als Opernkomponist nicht einmal der sechsbändigen Piper-Enzyklopädie des Musiktheaters einen Eintrag zwischen Pietro Torri und Tommaso Traetta wert: der Franzose Charles Tournemire (1870-1939). Und dies, obwohl er etwas Ungeheuerliches wagte: Wagners „Tristan und Isolde“ 1926 eine eigene Vertonung der Sage entgegenzusetzen – ganz abgesehen von seiner Franziskus-Oper vor Messiaen. Das Ungeheuerliche war bislang auch noch unerhört. Nun aber hat das Theater Ulm „La Légende de Tristan“ knapp 100 Jahre nach der Entstehung in einem Kraftakt zur Uraufführung gebracht.

Das Libretto basiert auf einer „Tristan“-Romanversion von Joseph Bédier (1900), der die keltischen Stoffquellen mit seinerzeit zeitgemäßen Mitteln plausibel zu gestalten suchte. Das Ergebnis weicht von Wagners Version ab: Tristan hat nicht Isoldes Verlobten Morold, sondern ihren Onkel Morholt mit dem Schwert erschlagen; er erwirbt sich Isolde durch einen siegreichen Kampf gegen einen Drachen; der Liebestrank, zubereitet und stehen gelassen von Brangien, wird mehr oder weniger zufällig aus Durst getrunken; König Marc erwischt das entflammte Paar nicht in flagranti, sondern gesteht sich zweimal selber ein, einen Verdacht allzu misstrauisch genährt zu haben. Das alles ändert freilich nichts an der übermächtigen Liebe von Tristan und Isolde – bis Tristan als verkleideter Narr noch einmal am Hofe Marcs auftaucht, um Isolde ein letztes Mal zu sehen. Erlösung des Helden.

Das im Zentrum stehende Leiden der liebenden Protagonisten wird von ebenso hohem Ernst und ebenso hoher Verzweiflung getragen wie in Wagners Oper – und jeder fragt sich natürlich: Wie klingt’s? Tournemire, Schüler von Franck und Widor, hat Entscheidendes jedenfalls erreicht: Eigenständigkeit. Seine Partitur entzieht sich der Kategorisierung, selbst wenn der französische Impressionismus und Strawinskys Pariser Großtaten nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sind. Auch nutzt er für seine klare syllabische Textvertonung die Formen alter Sakralmusik. Doch für die Modernismen seiner Harmonik und für die oft überraschende Melodik, die schnell sich ablösende Motivik vor ausgreifende Thematik stellt, sind Vergleichsgrößen schwerlich zu finden. Ein autonomes Insel-Neuland, das es zu entdecken, zu erhören gilt. Das ist das eigentliche Verdienst dieser späten Belebung, bei der sich das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm unter GMD Felix Bender in bester Verfassung zeigt: Nicht jede Repertoire-Oper kommt im Haus so sorgsam einstudiert herüber wie dieser, auch zur CD-Veröffentlichung geplante „Tristan“.

Intendant Kay Metzger inszeniert – und verlegt die alte Sage in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Ein Einheitsbühnenbild (Michael Heinrich), darstellend eine Rokoko-Bibliothek als Ersatz-Lazarett, steht sowohl für die Szene in Irland als auch in Cornwall. Wenn Joseph Bédier seiner „Tristan“-Version vor allem Plausibilität zukommen lassen wollte, dann Kay Metzger seiner Inszenierung historischen Realismus. Der Drache ist ein Wandbild – und gefeiert an Marcs Hof wird nicht nur Hochzeit, sondern unterm Tannenbaum auch Weihnachten. Was aber in Ulm erschüttert: dass die zweite Vorstellung dieser Uraufführungs-Produktion im Zuschauerraum nur zu einem Viertel bis zu einem Drittel besetzt ist.

Rüdiger Heinze

„La Légende de Tristan“ (entstanden 1926; Uraufführung 2022 posthum) // Oper von Charles Tournemire

Infos und Termine auf der Website des Theaters Ulm